Antisemitismus strukturell?

geschrieben von Alfred Fleischhacker

5. September 2013

Eine notwendige historische Klarstellung

Mai-Juni 2010

Detlef Joseph: Die DDR und die Juden. Eine kritische Untersuchung

Mit einer Bibliografie von Renate Kirchner. 400 Seiten, Das Neue Berlin, 19,90 Euro

Dieses Buch hat eine Vorgeschichte. Datieren lässt sie sich ziemlich exakt auf den Beginn der neunziger Jahre. Die Zeitspanne, in der der Anschluss der DDR an die BRD erfolgte. Zugleich begann, erst zaghaft, dann im steigenden Tempo eine Neubewertung der Nachkriegsgeschichte von 1945 bis 1990. Aber nur der im östlichen Teil 1949 entstandene Staat war davon betroffen. Das Signal gab der damalige, nun für ganz Deutschland zuständige, Justizminister Kinkel. Er erteilte seiner ihm unterstellten und an keinerlei Weisungen gebundenen Richterschaft den Auftrag, wo immer möglich, die DDR zu delegitimieren. Denn es habe sich ja um einen ›Unrechtsstaat‹ gehandelt. Eine Wortschöpfung, die weder im Grundgesetz noch im Strafgesetzbuch und auch nicht im Völkerrechtskodex zu finden ist.

Unter diesem Vorzeichen suchten nun einige Gremien, Zusammenschlüsse und Stiftungen nach Möglichkeiten, sich mit ihrer Deutung über das Leben in der DDR zu profilieren. Eine ihrer Behauptungen: Es habe dort nicht nur einen latenten, sondern einen strukturellen Antisemitismus gegeben. Und sie präsentierten eine Wanderausstellung mit dem provokanten, ironisch verschlüsselten Titel »Das hat’s bei uns nicht gegeben«. Auf den Tafeln finden sich Vermutungen, Halbwahrheiten und Unterstellungen. Unwiderlegbare Beweise für die Behauptungen sucht man vergebens.

Die gab es zu Beginn der fünfziger Jahre jedoch wirklich – für eine kurze Zeit. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie importiert – parallel zu den Schauprozessen – stattfanden. Auf Weisungen Moskaus wurden führende Personen der kommunistischen Parteien in Rumänien, Bulgarien, Ungarn bezichtigt, Agenten des Imperialismus zu sein, die im Zusammenspiel mit Zionisten die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern wollten. In der CSR fanden sich plötzlich Mitglieder des Politbüros auf der Anklagebank. Die meisten Angeklagten waren in der Tat jüdischer Herkunft. Der damalige Generalsekretär Slansky und mehrere seiner Gefährten wurden in einer Justizposse zum Tode verurteilt und hingerichtet. In der DDR beschränkte sich diese Periode auf propagandistische Manöver mit nicht überhörbarer antisemitischer Tonlage. Mit dem Tod Stalins im Frühjahr 1953 endete diese bedrückende Nachkriegsetappe.

Doch es stellt sich die Frage, in welchem Klima konnten die jüdischen Gemeinden im Land ihren Aufgaben nachgehen? Es waren unmittelbar nach Kriegsende einige Hunderte, die neue Gemeinden aufbauten. Sie setzten sich zusammen aus den wenigen Juden die als so genannte ›U-Boote‹ nur mit Hilfe von mutigen, ihr eigenes Leben riskierenden so genannten Ariern der Shoah entkommen konnten. Hinzu kamen die aus den KZs befreiten Überlebenden und etliche Hundert Remigranten aus westlichen Ländern, die den Neuaufbau der Gemeinden organisierten. Die Letztgenannten überwanden ihre Vorbehalte, in das Land der Mörder zurückzukehren, um am Aufbau eines Staates mitzuwirken, dessen oberstes Gebot sein sollte, für immer in Frieden miteinander zu leben. Wer könnte über diese Zeit ein kompetenteres Urteil sprechen als der Arzt Dr. Peter Kirchner. Er war über zwei Jahrzehnte Vorsitzender der größten der Jüdischen Gemeinden der DDR, in Berlin. Am 9. September 1971 anlässlich der 300sten Wiederkehr der Gründung der ersten Berliner Jüdischen Gemeinde sagte er: »Die hier lebenden Bürger jüdischen Glaubens sind entsprechend den Grundrechten der Verfassung gleichgestellte freie Bürger der DDR und genießen volle Souveränität bezüglich ihrer religiösen Gebundenheit.« Kirchner beendete seine Rede mit einem Satz von Moses Mendelssohn: »Jeder lebe nach seinem Glauben und seinen Überzeugungen und liebe seinen Nächsten wie sich selbst«.

Detlef Joseph, viele Jahre Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Autor des hier zu besprechenden Buches, hat sehr genau recherchiert. Mit hunderten von Quellennachweisen belegt er, dass die Behauptungen der Ausstellungsmacher über Antisemitismus in der DDR eine Unterstellung bleiben.

Doch die Besprechung bliebe unvollständig ohne die im Buch enthaltene Bibliografie von Renate Kirchner zu erwähnen. Man liest sie wie eine Offenbarung. So gab es ab 1945 bis 1990 über tausend Bücher, Publikationen, Texte, die das Leben der Juden zum Inhalt haben und in Verlagen der DDR erschienen sind. Frau Kirchner hatte, als studierte Bibliothekarin, 1974 begonnen, am Sitz der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße, eine Judaica-Sammlung aufzubauen. 1977 wurde die Bibliothek, für jedermann zugänglich, eröffnet. 1991 vereinigten sich die beiden Jüdischen Gemeinden Berlins, und die östliche Bibliothek wurde in die westliche als Zweigstelle integriert. Zehn Jahre später sollte sie geschlossen werden. Proteste der Leser erzwangen eine eingeschränkte Benutzungsmöglichkeit bis 2005.

»Die DDR und die Juden« – das Buch belegt, was Antisemitismus ist, wie er sich im Alltag äußert und welchen Stellenwert er für politische Brunnenvergifter hat. Deshalb sollte man sich diese Lektüre nicht entgehen lassen.