»Aus dem Wesen der Rasse«

geschrieben von Max Ragwitz

5. September 2013

Das »Zigeunerlager« und der faschistische Genozid an den Sinti
und Roma

Jan.-Feb. 2012

Es gibt Jahrestage, die sollte es besser nicht geben. Dazu gehört zweifellos der des berüchtigten Auschwitz-Erlasses durch Heinrich Himmler, der sich am 16. Dezember 2012 zum 70. Mal jähren wird. Mit diesem Erlass hatte der oberste SS-Führer die Deportation der im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma angeordnet. Ziel des im Original nicht überlieferten Erlasses war es, die Sinti und Roma als ethnische Minderheit komplett zu vernichten.

Überliefert ist dagegen ein sogenannter Schnellbrief des Reichskriminalpolizeiamts, der sich auf den Himmler-Erlass bezieht. In dem heißt es lakonisch: »Auf Befehl des Reichsführers SS vom 16.12.42 … sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dieser Personenkreis wird im nachstehenden kurz als ‚zigeunerische Personen‘ bezeichnet. Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz.«

Zur Kategorisierung des als Zigeuner anzusehenden Personenkreises kursierten im NS-System drei Einteilungskriterien: Das waren zum einen die sogenannten Vollzigeuner und Mischlinge mit vorwiegend zigeunerischen Blutsanteil gemäß des Blutschutzgesetzes von 1935, zum anderen sogenannte stammechte Zigeuner oder Zigeunermischlinge, wie sie von der rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle (RHF) eingeordnet worden. Als dritte Variante bestand die undifferenzierte und nicht weiter unterschiedene Einteilung als Zigeuner, was der Willkür und Spitzfindigkeiten Tür und Tor öffnete.

Die Regelung der Zigeunerfrage »aus dem Wesen der Rasse« hatte Himmler bereits vier Jahre zuvor in einem Runderlass angekündigt. Auf dessen Grundlage die RHF die Erfassung des Personenkreises für die Deportationen durchführte. Man ging dabei von über 32.000 Zigeunern im Deutschen Reich einschließlich Österreich und Sudetenland, aber ausschließlich Elsass-Lothringen, aus. Die »nach Zigeunerart« lebenden Jenischen (allgemein: Landfahrer, nicht Sesshafte) dagegen wurden nicht als Fallgruppe eingeordnet und kamen im Hauptbuch des Zigeunerlagers in Auschwitz-Birkenau nicht vor. Auf der Grundlage des bereits genannten Schnellbriefes wurden schließlich einige Gruppen von der Deportation herausgenommen, alle anderen über Zigeuner verhängten Verfolgungsmaßnahmen blieben aber auch für sie gültig.

Das sogenannte »Zigeunerlager Auschwitz« bestand aus dem Abschnitt B II e des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Es existierte von Februar 1943 bis August 1944 und kerkerte über 22.500 Häftlinge in Pferdestall ähnlichen Baracken ein. Über 19.300 von ihnen starben, mehr als 13.600 davon an planmäßiger Mangelernährung, Krankheit oder Seuchen, und über 5.600 von ihnen fielen der Vernichtung in den Gaskammern von Auschwitz zum Opfer. Wieder andere starben infolge individueller Gewaltattacken sowie wegen verbrecherischer medizinischer Praktiken beispielsweise durch den berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele, der sich nach Ende des Zweitens Weltkriegs nach Südamerika absetzte und 1979 an den Folgen eines Badeunfalls in Brasilien starb.

Die Auflösung des »Zigeunerlagers« begann Mitte Mai 1944 . Eine große Anzahl der Häftlinge wurde ins Lager Auschwitz verlegt, andere kamen in die Konzentrationslager Buchenwald, Flossenbürg und Ravensbrück. Die letzten verbliebenen knapp 3.000 Häftlinge wurden in den Gaskammern getötet bzw. am 3. August 1944 von einem Sonderkommando erschlagen oder erschossen.

Das Zigeunerlager und die systematische Ausrottung von Sinti und Roma war schließlich auch Gegenstand mehrerer NS-Prozesse. So beispielsweise während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher eher am Rande, stark thematisiert jedoch im Rahmen des Eichmann-Prozesses 1961 in Jerusalem und während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965. Noch 1991 wurde Ernst-August König als einer der Schergen im »Zigeunerlager« zu lebenslänglicher Haft verurteilt.