Ausflug in die Gaskammer

geschrieben von Axel Holz

5. September 2013

Ein Opfer von NS-Psychiatrie und -Justiz

März-April 2010

Eine halbe Million Menschen wurden Opfer der Euthanasie und Zwangssterilisation in Deutschland, einhunderttausend von ihnen wurden ermordet. Wie schnell man in die Fänge der Erbgesundheitsgerichte in der Nazi-Zeit kommen konnte und dabei jeden rechtsstaatlichen Schutz verlor, beschreibt Bernhard Selting in seinem gründlich recherchiertem Buch.

Bernhard Selting

»Betriebsausflug in die Gaskammer«, mdsverlag 2009, 8,95 Euro

60 Jahre nach der Ermordung seines Onkels durch die Nazis macht sich Bernhard Selting auf den Weg, um die wahren Hintergründe seines Todes zu erfahren. Zehn Jahre lang untersucht er alle verfügbaren Hinweise und erfährt, dass sein Verwandter nicht wie vermutet im KZ Sachsenhausen umkam, sondern durch Dr. Irmfried Eberl zusammen mit 300 weiteren Opfern am 9. März 1940 in Brandenburg ermordet wurde – in einer Gaskammer für Euthanasieopfer. Acht Jahre dauerte das Martyrium des Ingenieurs Peter Verhaelen, der als Teilnehmer der Marinemeuterei und Zeuge der Novembermassaker der Freikorps in Berlin 1918 traumatisiert wurde und dafür Jahre später fälschlicherweise mit der Diagnose »Schizophrenie« belegt wurde. Damit setzte sich das Räderwerk der Erbgesundheitsgerichte in Gang, aus dem für Peter Verhaelen kein Entkommen möglich war. Bernhard Selting beschreibt den unheilvollen Gang des Ingenieurs von der falschen Diagnose 1932 über die Zwangssterilisation bis zur Tötung 1940. So wurden neben geistig und körperlich Behinderten auch psychisch Kranke von den Nazis erbarmungslos verfolgt. Nicht selten wurden Unangepasste und politische Gegner mit Hilfe der Erbgesundheitsgerichte zum Schweigen gebracht. Das trifft wohl auch für Peter Verhaelen zu, der die rechtmäßige Ebertregierung verteidigte, jüdische Nachbarn in der Zeit ihrer Ausgrenzung und Entrechtung unterstützte und sich weigerte, den Hitlergruß in seinem Duisburger Betrieb zu zeigen. Doch ohne das gewissenlose Zusammenspiel hunderter Ärzte hätte der Mordplan der Nazis nicht funktioniert. Der endete nicht selten, mit grauen Bussen als Betriebsausflug von Psychiatrieinsassen getarnt, in der Gaskammer einer der sechs speziell geschaffenen Tötungsanstalten. Mit der Einlieferung in die Psychiatrie der Neußer Anstalt St. Alexius beginnt Verhaelens Ausgrenzung, der durch Kriegsereignisse traumatisiert ist. Seine Krankheit verstärkt sich vermutlich durch die sich wiederholenden Exzesse der Reichswehr in den »Ruhrkämpfen«, von Partisanenkämpfen der Nazis gegen französische Besatzer im Ruhrgebiet und Übergriffen der Nazis auf demonstrierende Duisburger Bergleute. Gleichzeitig wird ihm jeglicher rechtsstaatlicher Schutz entzogen. Eine Beschwerde gegen die falsche Diagnosestellung Schizophrenie wird vom Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Niedeck abgewiesen und die Sterilisation veranlasst. Verhaelen zeige eine geringe Krankheitseinsicht, hieß es in der Begründung, mit der dessen Beschwerde abgewiesen wurde. Peter Verhaelens untadeliger Lebenswandel und seine Leistungen als erfolgreicher Konstrukteur spielten plötzlich keine Rolle mehr. Dass sich Verhaelen gegen seine polizeiliche Zuführung zur Sterilisation wehrte, wird ihm später vorgeworfen, als er kurze Zeit nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in Gestapo-Gewahrsam kommt.

Bernhard Selting klärt mit seiner Recherche nicht nur das konkrete Schicksal eines der Tausenden Euthanasieopfer auf. Er deckt auch das kleine Netzwerk der Helfer in Verhaelens Familie auf und das große Netzwerk der Täter und Mitwisser. Dieses Netzwerk funktionierte offensichtlich auch nach 1945, als etwa der Beisitzer im Berufungsprozess gegen Peter Verhaelen, Dr. Theodor Wex, 1948 als Amtsgerichtsrat nach Arnsberg und 1952 zum Landesgerichtsdirektor berufen wurde. Ähnlich großzügig ging man mit Max Thomas um, der im Beschwerdeverfahren gegen Verhehlen den Vorsitz geführt hatte. Nach seiner Wiedereinstellung als Richter wurde er schließlich 1955 Oberamtsrichter. Der Rekord-Sterilisator Dr. Johannes Zillikens, der neben eintausend anderen Opfern auch Peter Verhaelen verstümmelte, praktizierte nach dem Krieg unbescholten 15 Jahre weiter als leitender Arzt am Klever St.-Antonius-Hospital. Nur Peter Verhaelens Henker, Dr. Irmfried Eberl, konnte solche Privilegien nicht mehr genießen. Nachdem sich Hinweise auf seine Mordtaten verdichteten, nahm er sich 1948 in der Untersuchungshaft das Leben.

Die Geschichte der Opfer und der Täter der Euthanasie unter der Nazi-Herrschaft ließe sich tausendfach erzählen. Erst durch ihre konkrete Schilderung wird das Zusammenspiel von Rasse- und Euthanasiegesetzen, von systematischer Ausgrenzung, Entrechtung, Entmündigung und Vernichtung der Nazi-Opfer nachvollziehbar – zur Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft.