Bild einer Generation

geschrieben von Alfred Fleischhacker

5. September 2013

Ein erstaunliches Buch ist erstmals auf deutsch erschienen

Jan.-Feb. 2009

Friedrich Alexan

Die Welt der kleinen Leute

Wellhöfer Verlag

Oktober 2008

EUR 12,80

ISBN: 3939540293

Ungewöhnlich ist das Entstehen des Buches. Nicht weniger ungewöhnlich sein Inhalt. Es reflektiert Zeiten und Umstände, die für das 20. Jahrhundert nicht untypisch waren. Nachvollziehbar sind sie am Lebensweg des Autors, eines deutschen Juden und Sozialisten, dessen Vorfahren in Polen lebten.

Der Autor kam 1901 zur Welt und erhielt den Namen Alexander Kupfermann. Im Verlauf eines ständig im Aufbruch befindlichen Lebens wurde aus dem Heranwachsenden, oft den Wohnort, das Aufenthaltsland wechselnden Kupfermann Friedrich Alexan. Zum Schreiben fühlte er sich berufen. Schriftsteller wollte er werden. In einem vermutlich 1949 verfassten Lebenslauf hatte er notiert: eine Trilogie »Zwischen zwei Weltkriegen« zu schreiben. Deren erster Teil ist 1937 tatsächlich in einem Pariser Verlag erschienen. Titel: »Im Schützengraben der Heimat – Geschichte einer Generation«.

Alexan war ein verfolgter Schriftsteller. Um sein Leben zu retten, musste er flüchten. Erst nach Paris, dann nach Palästina, in die Vereinigten Staaten, bis er schließlich Anfang der fünfziger Jahre zurück nach Deutschland in den östlichen der 1949 entstanden zwei Staaten, die DDR, kam.

Es vergingen fasst sieben Jahrzehnte ehe dieses Buch auf deutschem Boden erscheinen konnte. Sein Inhalt reflektiert ziemlich genau den Alltag in Mannheim, dort, wo das Geschehen angesiedelt ist und der Autor auch lebte, bis er Anfang der dreißiger Jahre, noch ehe die Regierungsgewalt an Hitler übergeben wurde, die Heimatstadt verlassen hatte. Der Verleger Ulrich Wellhöfer und ein Pädagoge der Stadt Mannheim haben dieses Buch nicht nur neu entdeckt, sondern auch als einen wertvollen Beitrag zur Geschichte Mannheims beschrieben.

Es ist in drei Kapitel gegliedert. Das erste mit der Überschrift »Der Spieß« gibt Einblicke in den Alltag einer Schule zwischen 1914 bis 1916. Geschildert wird ein »Pädagoge« der viel besser auf einen Kasernenhof gehört hätte. Sein Credo gegenüber den Schülern: Absoluter Gehorsam. Wird der auch nur angezweifelt, setzt es Prügel. Die werden ohne Gefühlsregung verabreicht. Wichtigstes Hilfsmittel des Lehrers, die Schüler zu willenlosen Subjekten zu degradieren: eine blitzende Pfeife.

Die Hauptperson im dritten Kapitel ist ein von der Pubertät geplagter junger Mann, der von sexuellen Bedürfnissen getrieben, voll innerer Hemmungen und auch Ängsten, ein Bordell aufsucht. Dort eine der Frauen anspricht und in ihr eine verständnisvolle, fast mütterliche Beschützerin findet. Als stiller Beobachter registriert er sorgsam die Gespräche der Bordellkunden, Dauergäste, aber auch zahlreiche Soldaten aus den Schützengräben auf Heimaturlaub während des 1. Weltkrieges. So entsteht für den Leser des Buches ein Bild von den Sehnsüchten und Hoffnungen der kleinen Leute im dritten Kriegsjahr. Sie leiden unter ständig wachsenden Entbehrungen und die Zahl der Gefallenen wird immer größer.

Über die Qualität des Buches möchte ich an dieser Stelle einen Schriftsteller zu Wort kommen lassen, dessen Urteil mit Sicherheit gewichtiger ist als meines. Die Rede ist von Oskar Maria Graf.

Der hatte im Juli 1939 in einem Brief an Mr. Friedland als deutscher Emigrant in den USA geschrieben: »Es wäre nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, dass dieses Buch des leider zu wenig bekannten jungen Autors zu den stärksten und eindringlichsten Arbeiten des freien deutschen Schrifttums gehört. Alexan hat es – was bei einem so jungen erst beginnenden Autor besonders ins Gewicht fällt – verstanden, durch die Aufzeichnung vieler Einzelschicksale gleichsam ein gültiges Gesamtbild einer Generation, nämlich der deutschen Kriegsgeneration von der Heimat zu geben. Vieles, was heute in Deutschland traurige und verständliche Wirklichkeit geworden ist, findet durch Alexans Buch eine ursächliche Erklärung.«

Irene Runge, die Tochter des Autors Friedrich Alexan, der im Januar 1994 in Dornum verstarb, schreibt: »Mir bleibt zu hoffen, dass die Leserinnen und Leser sich wie ich von diesem zeitgeschichtlich wahrhaft verblüffenden Dokument gefangen nehmen lassen. Wir wissen eher wenig von jener Zeit, von den Lebensumständen außerhalb des damaligen Schützengrabens, vom Alltag der kleinen Leute, vom sozialen Unglück und dem Unrecht in einem Bordell. Wie gut, dass mein Vater das alles in seiner Jugend recherchiert und aufgeschrieben hat! Ich muss dennoch gestehen, dass mir der Ort seiner Handlung als Maß für seine Kapitalismuskritik sehr ungewöhnlich erscheint. Aber genau das macht das Buch so spannend.«