Das Grundgesetz

5. September 2013

Wolfgang Abendroth zum demokratischen und sozialen Gehalt

Mai-Juni 2009

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Artikels von Professor Wolfgang Abendroth (1906 – 1985) zum 25. Jahrestag des Grundgesetzes 1974.

Er erschien damals in der Schriftenreihe des Röderberg-Verlags »Texte zur Demokratisierung – Antifaschistische Arbeitshefte des Röderberg-Verlags« in Heft 11

Titel: »Der antifaschistische Auftrag des Grundgesetzes« ( mit weiteren Beiträgen von Arno Behrisch, Heinz Düx, Peter Römer und Gerhard Stuby)

Ich bin der Letzte, der bestreiten würde, dass die Verabschiedung des Grundgesetzes, wenn man sie als historisches Ereignis würdigt, auch negative Seiten für die künftige Entwicklung des deutschen Volkes und Europas zum Ausdruck gebracht und weiterentwickelt hat. Denn dadurch war – wie wir wohl heute alle wissen, und wie es damals nur wenige im Parlamentarischen Rat zugeben wollten – die Hoffnung, das deutsche Volk könne in absehbarer Zeit seine staatliche Einheit wiederfinden, ebenso verspielt wie jener frische Mut zu demokratischer Gestaltung auch der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, der noch fast alle vorher entstandenen Länderverfassungen auch der westlichen Besatzungszonen bestimmt hatte, zur bloßen Garantie späterer Möglichkeiten zusammengeschrumpft….

Doch darf uns dieser negative Aspekt nicht den Blick für die positiven normativen Leistungen des Grundgesetzes verstellen, besonders für jene nicht, die trotz aller Veränderungen der Restaurationsperiode, wenn auch nicht als soziale Realität, so doch als geltende rechtliche Forderung an diese Realität erhalten geblieben sind. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass es im stets unaufhaltbaren dialektischen Spiel zwischen Norm und Wirklichkeit von großer politisch-sozialer Bedeutung sein kann, wenn eine auch nur teilweise oder möglicherweise zeitweise gar nicht realisierte Norm wenigstens in der formellen juristischen Geltung bewahrt werden kann. Deshalb haben auch wir, die wir einst dem Faschismus aktiv Widerstand geleistet haben, dieses Grundgesetzes zu gedenken.

Artikel 79, Absatz 3 des Grundgesetzes hat durch den Hinweis, dass jede Grundgesetzänderung, die die in Artikel 1 und 20 niedergelegten Rechtsgrundsätze berührt, unzulässig ist, verhindern wollen, dass jene Formen scheinlegaler Auflösung der Verfassung, denen die Weimarer Reichsverfassung seit 1930 und endgültig 1933 zum Opfer gefallen ist, sich wiederholen.

Die Basis des Entstehungsprozesses der Rechtsgrundsätze dieses Grundgesetzes ist damit dessen antifaschistische Entscheidung, die in Artikel 139 ihren ausdrücklichen Niederschlag gefunden hat. Er ist nicht, wie allzu leichtfertig viele juristische Professoren behauptet haben, deren Publikationen im Gelehrten-Kürschner von 1941/42 leicht auffindbar sind und die vielfach in den ersten Jahrzehnten der BRD die Interpretation des Verfassungsrechts bestimmten, lediglich eine (zudem bedenkliche) »Übergangsvorschrift mit Ausnahmecharakter«, sondern… ein Niederschlag jener Grundentscheidung, die am Unveränderlichkeitsschutz des Artikels 79 Absatz 3 teilhat.

Dieser rechtlich unveränderliche Kern des Grundgesetzes besteht aus der Anerkennung der Würde des Menschen als Basis des Grundrechtesystems in Artikel 1 und der Entscheidung für einen demokratischen und sozialen Staat in Artikel 20. Seine Konsequenz ist die Garantie freier und gleicher Willens- und Meinungsbildungsmöglichkeiten für alle, die berufen sind, am demokratischen Willensbildungsprozess teilzuhaben und zu diesem Zweck ihre Organisationen (Artikel 9) und Parteien (Artikel 21) zu bilden.

Über das, was zu der Zeit, in der diese Formulierung entstand, ein Rechtsgrundsatz war, den das Grundgesetz für so wichtig hielt, dass es ihn in Artikel 79 Absatz 3 ausdrücklich als unaufhebbar erklärte, sagen die generellen politischen Debatten dieser Zeit gewiss mehr aus, als die mehr oder minder zufälligen Expertendiskussionen in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates. Denn dort bedurften solche fundamentalen Einigungen, deren Inhalt jedem als selbstverständlich erschien,, keiner weiteren Erörterung mehr. Dass damals (anders als heute) die SPD noch die Garantie der Ermöglichung des Umbaus in eine sozialistische Gesellschaft mit sozialistischen Produktionsbedingungen für eine selbstverständliche Voraussetzung einer Verfassungseinigung hielt, wusste in dieser Zeit jeder. Und dass damals noch immer ein großer Teil der Anhänger und Mitglieder der CDU der gleiche Meinung war, wurde noch ein Jahr später durch Artikel 27 der Verfassung Nordrhein-Westfalens deutlich.

So hat das Grundgesetz durch diese Normen ein rechtlich unaufhebbares Minimum an demokratischen und sozialen Anforderungen gesetzt, dessen Verteidigung sich lohnt.