Entschädigung der Opfer

geschrieben von Ulrich Sander

5. September 2013

Eine bleibende vorrangige Aufgabe der VVN-BdA

Nov.-Dez. 2008

Empörend ist das Verhalten der Bundesregierung gegenüber den italienischen Militärinternierten. Sie waren von Hitler-Wehrmacht und Waffen-SS gefangen gesetzt worden, nachdem sich Italien im September 1943 aus dem Bündnis mit Nazi-Deutschland gelöst und der Mussolini-Nachfolger Badoglio vor den Alliierten kapituliert hatte. Soweit sie nicht umgebracht wurden, wie auf der griechischen Ägäis-Insel Kefallonia, wurden sie in deutsche Lager eingesperrt und für die Rüstung oder andere »kriegswichtige« Aufgaben »herangezogen«.

Weil Unrechtsakte ungültig sind, meinte der Berliner Jurist Prof. Dr. Christian Tomuschat, haben die italienischen Militärinternierten – auch wenn sie Zwangsarbeit für den Nazikrieg leisten mussten – keinen Anspruch auf Leistungen aus der erwähnten Stiftung. Manche nannten Tomuschats Stellungnahme ein »Gefälligkeitsgutachten«.

Neben der Förderung des Friedens, der Demokratie und der Völkerverständigung gehörte und gehört die Fürsorge für politisch, rassistisch und religiös Verfolgte und deren Angehörige zu den vornehmsten Aufgaben der VVN-BdA. »Gesellschaftliche Anerkennung und Entschädigung aller Opfer des Faschismus; Betreuung und Fürsorge für die ehemals vom NS-Regime Verfolgten und deren Angehörige« – so heißt es in der Satzung der Bundesvereinigung und dies war die Aufgabenstellung in der VVN-BdA der Bundesrepublik von Anfang an. Die VVN ist sogar an vielen Orten aus Gremien zur Entschädigung der NS-Opfer hervorgegangen.

In den 50er-Jahren hatte sich das Gesetz von 1951 »zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen« verheerend ausgewirkt. Dieses gestattete etwa 150.000 Beamten, Angestellten, ehemaligen Wehrmachts- und Arbeitsdienstangehörigen, die wegen ihrer Tätigkeit in der Nazizeit nach 1945 aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren, volle Versorgungsansprüche zu stellen, bzw. erneut in den Staatsdienst zu treten. Das Gesetz verpflichtete Bund, Länder, Gemeinden, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, Bundesbahn und Bundespost, 20 Prozent der Besoldungsmittel für die Beschäftigung dieser Personengruppen zu verwenden. Paragraph 19 bestimmte: »Die Beamten zur Wiederverwendung sollen entsprechend ihrer früheren Rechtsstellung als Beamte auf Lebenszeit oder auf Zeit in ein gleichwertiges Amt übernommen werden.« Schon quantitativ war somit ein Übergewicht NS-belasteter Personen gegenüber den Antifaschisten im öffentlichen Dienst gegeben.Die hohen Renten für NS-Belastete standen in Kontrast zu den niedrigen Bezügen für NS-Opfer. Dem 131er-Gesetz stand das Bundesentschädigungsgesetz gegenüber, das zahlreiche Widerstandskämpfer und große Opfergruppen ausgrenzte, sie zu »vergessenen Opfern« machte. Während die ehemaligen NS-Berufsbeamten per Gesetz wieder in den öffentlichen Dienst kamen, wurden zahlreiche Antifaschisten per Blitzgesetz daraus entfernt oder per Paragraph 6 des Bundesentschädigungsgesetzes ihrer Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen beraubt, vor allem dann, wenn sie Kommunisten waren. Und dies galt oft auch für ihre Kinder und Enkel, wenn diese in den Staatsdienst – z. B. als Lehrerinnen und Lehrer – aufgenommen werden wollten.

Ungefähr 10.000 Linke und Antifaschisten wurden in der Zeit des Kalten Krieges in der BRD als »Extremisten« ins Gefängnis geworfen; ihre Rehabilitierung unterblieb bisher. Vor allem wurde bis heute die Aberkennung der Entschädigung für jene Personen nicht zurückgenommen, die sowohl unter Hitler als auch unter Adenauer aus politischen Gründen verurteilt wurden. Der Bundestag hatte am 8. Mai 2008 einen Antrag der Fraktion Die Linke zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (16/3536, 16/7950) zu behandeln. Er wurde abgelehnt. Lediglich die Antragsteller stimmten für die Vorlage. Während sich die Grünen enthielten, stimmten Koalition und FDP dagegen. Die Linksfraktion hatte gefordert, dass Mitglieder der damaligen Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) mit anderen durch den Nationalsozialismus Verfolgten bei Entschädigungsansprüchen gleichzustellen seien. Ausgeschlossen von Entschädigungen seien lediglich diejenigen, die seit dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens rechtmäßig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurden. Das hielten Koalitionssprecher aus der Union der Fraktion Die Linke entgegen. In der Zeitung »Das Parlament«, Nr. 20/2008 vom 13.Mai 2008 ist der Verlauf der Debatte nachzulesen.

Angehörige der NS-Opfer leiden bis heute unter dem Geschehen. Sie werden nach wie vor als Angehörige von Verbrechern oder als Unberechtigte bewertet, mit all den Folgen, die das für die Psyche hat. Auch andere Opfer des Naziregimes, die nicht wirklich entschädigt wurden, und ihre Angehörigen sind hart betroffen, zum Beispiel Sinti und Roma. Michael Teupen, Geschäftsführer des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, schreibt zum Problem der »zweiten Generation«: »Das Thema der zweiten Generation ist viel zu wenig verbreitet. Und ich glaube auch überhaupt nicht im Bewusstsein der Politiker verankert. Dabei erscheint mir hier Hilfe und Unterstützung dringend erforderlich. Stellen Sie sich doch einfach einmal vor: In einer Familie war während des Naziregimes ein Elternteil im KZ oder sogar beide Elternteile. Es wird (meistens) über die fürchterlichen Erlebnisse in der Familie nicht gesprochen. Es war einfach zu grausam, man möchte es auch verdrängen, man ist auch mit dem Aufbau einer neuen Existenz beschäftigt. Und dennoch ist das Leid, die Gräuel der Vergangenheit latent stets vorhanden. In so einer Atmosphäre wächst ein Kind heran. Da ist etwas, es ist nicht greifbar, nicht zu benennen, aber dennoch spürbar.« In Israel und wohl auch in den USA gibt es entsprechende therapeutische Angebote, um auch diesen sekundär traumatisierten Menschen Unterstützung angedeihen zu lassen. Teupen fährt fort: »Diese Zweite Generation hat bisher keine Lobby, sie artikuliert sich auch selber nicht, sie schweigt.« Ihr müsse geholfen werden.

Im Jahre 2007 wurden die letzten Mittel der Stiftung »Erinnerung Verantwortung Zukunft« an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgezahlt. Zugleich fand die Arbeit der »Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime«, 1986 gegründet vom VVN-Präsiden Alfred Hausser (gestorben 2003), ihren Abschluss. Dennoch bleibt noch viel zu tun. So gibt es noch Mittel des sogenannten »Zukunftsfonds« der Stiftung EVZ, aus deren Zinsen Projekte für die Überlebenden und die politische Bildung realisiert werden können.

Ferner gibt es noch immer für »vergessene Opfer« Härtefonds in einigen Bundesländern, deren Aufgaben nicht erfüllt sind. Dort, wo eine Entschädigung aus den Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« nicht mehr möglich erscheint, müssen andere Wege für Härtefallregelungen und eine gerechte Entschädigung gefunden werden. Unterstützt werden sollte von der VVN-BdA die Forderung des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, »dass die Opfer des NS-Regimes entschädigungsrechtlich und versorgungsrechtlich gegenüber den Opfern des SED-Regimes nicht benachteiligt werden«; das Bundesversorgungsrecht müsse auch für die Opfer des NS-Regimes zur Anwendung kommen.

Zu den immer noch »vergessenen« Opfern zählen die sowjetischen und italienischen Kriegsgefangenen, italienische Militärinternierte, griechische NS-Opfer, von Entschädigung ausgeschlossene Kommunistinnen und Kommunisten, von der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« nicht berücksichtigte Opfergruppen. Erforderlich sind Rentenleistungen für die in Ghettos angestellten NS-Opfer nach dem »Ghettorentengesetz«, Nachzahlungen für Euthanasie-Geschädigte und Opfer der Zwangssterilisierung.

Zu fordern ist die Entschädigung für alle überlebenden Deserteure und anderen Opfer der NS-Wehrmachtsjustiz, einschließlich derjenigen, denen von den Nazis »Kriegsverrat« unterstellt wurde. Ferner die Schaffung von Regelungen für Sachleistungen und Kuren für hochbetagte Opfer, auch als einmalige Leistungen. Dazu gehört eine dem Lebenslauf angemessene Betreuung der Opfer in der Altenpflege mit genügendem und geschultem Personal. Zu unterstützen sind die Entschädigungsforderung der Opfergemeinden in den ehemals vom deutschen Faschismus besetzten Ländern.

Die Entschädigung ist kein gestriges Thema. Mit den Entscheidungen höchster Gerichte in Griechenland und Italien für die Entschädigung der Opfer aus Gemeinden, in denen Wehrmacht- und Gebirgstruppen Massenverbrechen begingen, ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden – womit kaum noch zu rechnen war. In der Tradition der Sozialarbeit der VVN in Westdeutschland stehend, schaltet sich die größte und traditionsreichste Opferorganisation gemeinsam mit Bündnispartnern in das Ringen ein. Dazu gehören Aktionen gegen die Unterstützung der Bundesregierung für den Kameradenkreis Gebirgstruppe unter der Losung »Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer«. Dazu gehört die Mitarbeit im Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte in Köln. Und dazu gehört, dass wir uns in Leserbriefen, Artikeln und anderen Äußerungen immer wieder zu Wort melden.