Ethik in der Medizin

geschrieben von Michael Wunder

5. September 2013

Lehren des Nürnberger Ärzteprozess von 1947

Nov.-Dez. 2007

Am 20. August 1947 wurden die Urteile im Nürnberger Ärzteprozess gesprochen. Die Richter richteten trotz der in diesem Prozess verhandelten Ungeheuerlichkeiten ihren Blickwinkel nicht nur auf das Geschehene und die daran Beteiligten, sondern sie gingen mit der Formulierung des so genannten Nürnberger Kodex, in welchem sie Verhaltensrichtlinien für die Durchführung medizinischer Experimente formulierten, weit darüber hinaus. Versuche am Menschen stellen ein allgemeines ethisches Problem dar. Erstmals in der Geschichte wurden mit dem Nürnberger Kodex verbindliche Grundsätze dafür aufgestellt.

60 Jahre danach lohnt es sich zu fragen, ob die Lehren aus Nürnberg auch heute noch in der Medizin anerkannt werden. Brisante Fragen stellen sich bezüglich medizinischer Versuche heute oder heutiger Rechte von Patienten, die sich selbst nicht hinreichend äußern können. Tragen wir vor dem Hintergrund der Geschichte eine besondere Verantwortung oder hemmt uns diese angesichts der Herausforderungen der modernen Biomedizin?

»1. Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.

2. Der Versuch muss so gestaltet sein, dass fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich oder überflüssig sein.

3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen, dass die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen werden.

4. Der Versuch ist so auszuführen, dass alles unnötige körperliche und seelische Leiden und Schädigungen vermieden werden.

5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug angenommen werden kann, dass es zum Tod oder einem dauernden Schaden führen wird, höchstens jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient.

6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.

7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.

8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen Stufen des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder durchführen.

9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.

10. Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten muss, dass eine Fortsetzung des Versuches eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.«

Der Nürnberger Kodex von 1947 stellt das Wohl des einzelnen Menschen und seinen menschenrechtlichen Schutz in den Mittelpunkt der Medizin, nicht die Wissenschaft, nicht den Fortschritt, nicht das Wohl der Gesellschaft. Die heutige Diskussion über Biomedizin und Bioethik bezieht sich zunehmend auf die Geschichte und den Nürnberger Kodex. Dies ist ihre Stärke und dies erklärt auch ihr Ausmaß und ihre öffentliche Wirksamkeit. Die kritisch-historische Anknüpfung an den Nürnberger Kodex sieht sich dabei aber grundsätzlich zwei Fragen gegenüber, die den Charakter und die Gültigkeit des Kodex betreffen.

Die erste Grundsatzfrage lautet: Hat der Kodex nur eine historische oder auch eine allgemeinverbindliche Bedeutung? Oder anders gefragt: Ist der Kodex von 1947 nur aus dem historischen Kontext heraus zu verstehen? Zielt er nur auf die Beurteilung der Praktiken der NS-Mediziner ab? Oder hat er eine allgemeine Gültigkeit für die medizinische Forschung und die Medizin in einer zivilisierten Welt überhaupt?

Diese Fragen wurden insbesondere in den USA in den 60er- und 70er-Jahren gestellt. Hintergrund waren die Enthüllungen der berüchtigten Krebsversuche im »Jewish Chronic Desease Hospital« in Brooklyn 1963, wo 22 chronisch kranken, geistig behinderten Frauen Krebszellen eingeimpft wurden, und ebenfalls die Enthüllungen über die Tuskegee-Syphilis-Study 1972, in der 400 schwarze Männer ohne Einwilligung über Jahrzehnte unbehandelt bzw. scheinbehandelt blieben, um den Verlauf der Erkrankung zu beobachten, ohne davon informiert zu sein, bzw. im falschen Glauben, sie würden behandelt. Diese Studien sind sicherlich nur die Spitze des Eisberges, wie der deutsch-amerikanische Medizinhistoriker Jay Katz feststellte. Es sei, so Katz, deshalb verständlich, dass der Nürnberger Kodex »missachtet wurde, sowie er bekannt wurde«. Seine Gültigkeit für ein demokratisches Land wurde schlicht in Abrede gestellt. Er sei nur historisch zu verstehen und auf eine Diktatur anwendbar.

Die historischen Zeugnisse und ein Blick auf den Text des Kodex selbst sprechen dagegen eindeutig für den Anspruch auf eine Allgemeingültigkeit.

Telford Taylor, der Chefankläger von Nürnberg, sagte in seinem Eröffnungsstatement 1946, dass der Ärzteprozess kein reiner Mordprozess sei, weil die Angeklagten Ärzte seien, die den Hippokratischen Eid geschworen hatten, also in Ausübung ihres Berufs zu Mördern geworden waren. Folgerichtig schufen sich die Richter mit dem Nürnberger Kodex eine Beurteilungsgrundlage für Verbrechen, die im Rahmen der Medizin möglich geworden waren. Die Richter bezeichneten die Aussagen des Kodex als Grundprinzipien, »welche befolgt werden müssen, so dass Versuche am Menschen nicht gegen Moral, Ethik und Rechtsprinzipien verstoßen«.

Auch wären der berühmte erste Satz des Kodex – »Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich« – und die danach folgenden Ausführungen zur Freiwilligkeit, zu den Voraussetzungen der Versuchsperson und des Untersuchers und zur Qualität der Information angesichts der Medizin von Auschwitz und Hadamar bedeutungslos, ja wenig sinnvoll gewesen, wenn sie nicht als allgemeine Regeln aufgefasst worden wären. Die große Diskrepanz zwischen den Aussagen des Nürnberger Kodex und ihrer Unumgänglichkeit auch für die Praxis in den westlichen Demokratien und für die experimentalmedizinische Wirklichkeit insbesondere in den USA führten dann ab den 60er- Jahren zu den im wesentlichen erfolgreichen Versuchen, innerhalb des Weltärztebundes eine revidierte Fassung des Nürnberger Kodex zu verabschieden.

Hier schließt sich die zweite Grundsatzfrage an: Hat der Kodex einen rein juristischen Charakter, der nur den menschenrechtlichen Schutz des Einzelnen einklagbar macht, oder hat er den Charakter eines ethischen Kodex für eine humane Medizin überhaupt?

Hintergrund dieser Frage ist der beständige Widerstreit zwischen der sogenannten »juristischen Auffassung« der Medizin, der mündige Patient könne durch sein Zustimmungsverhalten – heute müssten wir vielleicht »Kundenverhalten« sagen – die für sich selbst nicht mehr verantwortliche Medizin nutzen, bestimmen, legitimieren und kontrollieren, und auf der anderen Seite die »Verantwortungs-Auffassung«, nach der die Medizin und die Mediziner im Sinne des Hippokratischen Eids selbst verantwortlich sind für ihr Tun, auch sorgende und fürsorgliche Funktionen innehaben und damit aber auch oft entmündigende Funktionen übernehmen.

Es ist unübersehbar, dass die »informierte Einwilligung« (der »informed consent«), das Herzstück des Nürnberger Kodex, eine menschenrechtliche – und damit juristisch grundrechtliche Aussage ist. Interessant ist die Textgenese des Kodex: die von Andrew Ivy dem Gericht im Dezember 1946 vorgelegten Prinzipien basierten auf der Hippokratischen Ethik des verantwortlichen ärztlichen Verhaltens. Die Richter von Nürnberg ergänzten diese Prinzipien bewusst und vor dem Hintergrund der Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus um die unumstößlichen Menschenrechte der Versuchsperson: die absolute Notwendigkeit der »informierten Einwilligung« und das Recht, den Versuch abbrechen zu können, die sich in den Punkten 1 und 9 des Kodex befinden. Sie ersetzten damit aber nicht die Aussagen über ein verantwortliches ärztliches Handeln in den Aussagen von Ivy, wie sie in den Punkten 2 bis 8 und Punkt 10 des Kodex festgehalten sind.

Der Nürnberger Kodex von 1947 ist so gesehen eine geradezu geniale Verknüpfung der Polaritäten der Hippokratischen Ethik der ärztlichen Verantwortung und der Menschenrechte. Die Antwort auf die aufgeworfene Frage kann also nur ein »und« sein: der Kodex hat einen menschenrechtlich-juristischen Charakter und er ist ein ethischer Kodex für eine humane Medizinforschung.

Der Streit um die Gültigkeit und den Charakter des Nürnberger Kodex ist – obwohl die hier dargelegten Antworten auch in der amerikanischen Literatur weit verbreitet sind – gerade in den USA heute wieder voll entbrannt. Verschärfend kommt hinzu, dass Völkerrechtsexperten heute allgemein davon ausgehen, dass der Nürnberger Kodex als Bestandteil des Nürnberger Urteils Völkerrechtscharakter hat, somit einklagbares Recht darstellt. Die Auseinandersetzung könnte auch in Deutschland an Schärfe zunehmen, wenn sich die Kritik an der Biomedizin stärker auf den Kodex bezieht.

Das Prinzip der »informierten Einwilligung« bedeutet nicht, dass das, was machbar ist, gemacht werden darf, nur weil eine Person zustimmt. Es ist eine notwendige Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung für eine humane Medizin.

In der heutigen Diskussion um die Rechte von Patienten bei medizinischen Versuchen müssen neben der persönlichen Einwilligung der Versuchsperson selbstverständlich die notwendigen weiteren Voraussetzungen, wie den erwarteten Nutzen für die Gesundheit konkreter Personen oder Personengruppen, die Vermeidung unnötiger Versuche durch Nutzung vorhandenen Wissens, das Fernhalten unnötiger Belastungen für die Versuchspersonen, die Veröffentlichung der Ergebnisse sowie die Einhaltung der Entscheidungen der Ethik-Kommission zum Thema werden. Es ist jedoch alarmierend, dass es bei fast allen späteren Revisionen des Nürnberger Kodex nicht um die Ausformulierung weiterer Bedingungen einer sozialverantwortlichen Medizin ging, sondern stets um die Relativierung und Einschränkung des Prinzips der »informierten Einwilligung«.

Am Beginn dieser Revisionen steht die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes 1964. Sie stellt den wissenschaftlichen Fortschritt an den Anfang und damit in den Mittelpunkt und betrachtet die Rechte des Individuums nur noch in Relation dazu. Aus der Deklaration von Helsinki stammt die bis heute gültige Unterteilung in die »klinische Forschung« im Sinne eines individuellen Heilversuchs und die »nicht-therapeutische«, die fremdnützige Forschung. Für den Heilversuch soll die »informierte Zustimmung« im Falle einer Einwilligungsunfähigkeit vom gesetzlichen Betreuer gegeben werden. Die Ausführungen zur fremdnützigen Forschung sind zweideutig: Einerseits heißt es, dass sie »ohne die freiwillige Zustimmung nicht durchgeführt werden könne« und andererseits: »Wenn der Betroffene rechtlich nicht fähig ist, seine Zustimmung zu geben, sollte diese von seinem gesetzlichen Betreuer eingeholt werden.« Und einen Satz weiter: »Derjenige, an dem ein klinischer Versuch vorgenommen wird, sollte geistig, körperlich und von seinem Rechtsstatus her in der Lage sein, seinen freien Willen auszuüben«.

Seit Helsinki zeigt sich immer deutlicher: Der Prüfstein für die »informierte Einwilligung« ist der Umgang mit den Menschen, die nicht einwilligen können. Der deutsch-amerikanische Medizinhistoriker Jay Katz hat in diesem Zusammenhang auf die interessanten Entwurfstexte von Helsinki aus dem Jahr 1962 hingewiesen. Darin heißt es klar, dass folgende Personengruppen niemals als Versuchspersonen von Experimenten dienen dürfen: Kriegsgefangene, Zivilisten, die durch militärische Besetzung vertrieben wurden, Gefängnisinsassen und »Personen, die ihre Einwilligung nicht geben können, sei es auf Grund ihres Alters, ihrer geistigen Verfassung oder weil sie sich in einer Lage befinden, in der sie nicht die Freiheit der Wahl haben«. Diese Klarheit, die unmittelbar dem Nürnberger Kodex von 1947 entspricht, wurde bereits in Helsinki in der Generalversammlung des Weltärztebundes 1964 aufgegeben.

Die Bioethik-Konvention – nach der heftigen öffentlichen Kritik schamhaft umbenannt in »Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin« – stellt vor diesem Hintergrund die endgültige Revision des Nürnberger Kodex dar und den Schlusspunkt des Kampfes der Experimentalmedizin um die nicht einwilligungsfähigen Menschen. Im Artikel 17.2. dieser Konvention heißt es, dass bei nicht einwilligungsfähigen Personen – also Menschen mit geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung, Altersdemenz, vorübergehende Bewusstlosigkeit oder Wach-Koma – der gesetzliche Betreuer die Einwilligung in fremdnützige Forschungsvorhaben geben kann, wenn die Forschung Nutzen bringt für »Personen, die sich in der gleichen Altersstufe befinden oder die an der gleichen Krankheit oder Störung leiden oder sich in dem gleichen Zustand befinden« und wenn das Forschungsvorhaben nur ein »minimales Risiko und eine minimale Belastung« für den Betroffenen darstellen würde.

Die historische Norm des Nürnberger Kodex, die mit so unendlich viel Leid belegt ist, wird damit gebrochen. Die wichtigsten Kritikpunkte bestehen meines Erachtens in folgendem:

Der Verweis auf den Gruppennutzen und der Hinweis auf die »zukünftigen Patienten«, »die Gesellschaft« und die »Spezies Mensch«, markiert den gefährlichen Übergang einer individualethischen Bindung der Medizin zu einer neuen wieder kollektivethischen Orientierung.

Die Einwilligung des Betreuers in eine fremdnützige Forschung ist mit dem bestehenden Betreuungsgesetz in Deutschland unvereinbar. Der gesetzliche Betreuer darf nur zum Wohle seines Betreuten entscheiden, nicht zum Wohle Dritter oder der Gesellschaft. Die Argumentation, dass das Wohl des Betreuten darin bestehen könnte, etwas Gutes für die Allgemeinheit zu tun, also ein gemeinnütziges Opfer zu bringen, ist nicht nur der hilflose Versuch, die neue Euro-Norm doch noch mit dem deutschen Betreuungsrechtes zu vereinbaren, sondern verweist unfreiwillig klar auf den historisch folgenreiche Orientierung auf kollektivethischer Normen.

Die Begriffe »minimales Risiko« oder »minimale Belastung« sind vage und interpretierbar. In einer Broschüre des deutschen Justizministeriums heißt es, dass es nur um »sanfte Methoden« wie Wiegen, Messen und Beobachten und Mitnutzung von Blut-, Speichel- und Urinproben ginge. In den Erläuterungen der Konvention sind dagegen schon bildgebende Verfahren und für die Gruppe der Koma-Patienten Versuche zur Verbesserung der Intensivmedizin aufgeführt. Es geht also durchaus nicht nur um sanfte, sondern um invasive Forschungsmethoden. Die Forschungspraktiker, wie der in Deutschland bekannte Koma-Spezialist Karl Max Einhäupl von der Berliner Charité, geben unbekümmert zu: »Natürlich geht es hier nicht nur darum, komatösen Patienten das Blut abzunehmen – so niedlich sehen wir die Dinge in der Tat nicht – sondern es geht darum, mit komatösen Patienten klinische Studien durchzuführen, die theoretisch auch geeignet sind, das Leben eines komatösen Patienten zu verkürzen und ihm Schaden zuzufügen.« »Minimales Risiko« und »minimale Belastung« könnten so zum Türöffner für eine aggressive Forschungs-praxis ohne Einwilligung werden. Auf Druck entsprechender europäischer Rahmengesetze (EU Richtlinie2001/80/EG) wurde das deutsche Arzneimittelgesetz 2004 so verändert, dass klinische Prüfungen an Minderjährigen zulässig sind

Damit ist das Kriterium der Gruppennützlichkeit als ausreichende Legitimation für einen Medizinversuch erstmals ins deutsche Recht aufgenommen – bisher beschränkt auf Minderjährige, erwachsene Nichteinwilligungsfähige sind noch explizit ausgenommen.

Das Vermächtnis von Nürnberg ist die dringend gebotene individualethische Bindung der Medizin und die Absage an jede kollektivethische Orientierung. Eine humane medizinische Forschung und die Medizin der Zukunft, sind immer dem Wohl konkreter Menschen verpflichtet. »Übergeordnete Interessen«, das »Wohl kommender Generationen« oder der »Spezies Mensch« rechtfertigen in keiner Weise das Unterlaufen des menschenrechtlichen Schutzes des Einzelnen und des Prinzips der »informierten Einwilligung«, auch wenn dies möglicherweise eine Verlangsamung der Forschung bedeutet.

Die staatlich anerkannte und geschützte Verlässlichkeit der Menschenrechte in der Medizin und der Medizinforschung zeigt sich am Umgang mit den Menschen, die nicht einwilligen können. Ihr Schutz vor fremdnütziger Forschung ohne persönliche Einwilligung hat deshalb hohe Priorität.

Gigantomane Gesundheitsvorstellungen haben in der Nazi-Ära dazu geführt, dass nicht nur die Rechte, sondern auch das Leben des Einzelnen missachtet wurden, um den »Volkskörper« zu heilen. In Anlehnung an Jay Katz lässt sich formulieren: Wäre im professionellen Denken und Handeln der Ärzte im Nationalsozialismus die unumstößliche Notwendigkeit der menschenrechtlichen Schutzgarantien des Einzelnen fest verankert gewesen, hätten sie niemals den Illusionen und verbrecherischen Folgen der »Magna Therapia« auf Kosten des Einzelnen folgen können. Nur durch ein absolutes Bestehen auf der Unantastbarkeit der Würde des Menschen im Sinne des Nürnberger Kodex einschließlich des Verbotes der Instrumentalisierung des Menschen durch uneingewilligte fremdnützige Forschung und der Lebensrechte aller Menschen kann die drohende Wiederholung der Geschichte verhindert werden.