Faschismus als Religion

geschrieben von Jens Grandt

5. September 2013

Hitler sah sich in der Nachfolge Jesu Christi

Sept.-Okt. 2006

Glaubt, wer nicht an Gott glaubt, gar nichts mehr? Die Streitschrift „Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens“ von Jens Grandt analysiert, von Untersuchungen zum Wesen der Religion ausgehend, Erscheinungsformen säkularer Religiosität in Vergangenheit und Gegenwart. Dabei wird in polemischer Auseinandersetzung mit Marx und Engels eine Neuberwertung Feuerbachs vorgenommen. Spezielle Kapitel befassen sich mit dem Autoritätsglauben vom Papsttum bis zum neuzeitlichen Personenkult, Nationalismus, Nationalsozialismus, orthodoxen Marxismus-Leninismus und Neoliberalismus als säkulare Religion der Gegenwart. Die aktuellen Debatten über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft sowie über ethische Werte bestätigen die Brisanz dieser Thematik.

Das Buch ist im traditionsreichen linksliberalen Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster erschienen. Es hat 360 Seiten und kostet Euro 29,90.

Was uns im Gedenken an die Hitler-Diktatur und ihre barbarischen Folgen nicht in Ruhe lässt, die Frage, die wir uns immer wieder zu beantworten haben, ist: Wie konnte dies geschehen? Dieser Fanatismus, diese Selbstvergessenheit, das Jubelgeschrei, die Morde, die Vernichtung der Juden, nicht zuletzt ein Krieg gegen die Welt, dessen Entscheidung „erst eine Sekunde vor zwölf“ fallen werde, wie Goebbels noch am 15. April 1945 auftrumpfte. Ökonomische Analysen haben Hintergründe aufgedeckt, sie erklären aber nur ungenügend, wie große Teile des Volkes einer Massenpsychose verfallen konnten.

Es ist kein Zufall, dass die ersten Versuche, weltliche Glaubenssysteme mit einem eigenen Begriff zu bezeichnen, mit der Einschätzung des Faschismus und seiner deutschen Abart, des Nationalsozialismus, einhergingen. 1938 erschien in Wien Eric Voegelins kleine, aber bedeutende Abhandlung „Die politischen Religionen“; sie wurde von den Nazis sofort verboten. Wenig später hat der französische Philosoph Raymond Aron den Begriff „säkulare Religion“ geprägt und am Beispiel des Nationalsozialismus ausgeführt, wie sich ein Glaube manifestiert, der ohne jenseitigen Gott auskommt.

Die Nationalsozialisten versuchten zunächst, das Christentum für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Schon die Bezeichnung, zugleich Verheißung des NS-Regimes als des „Tausendjährigen Reiches“ ist ein christliches Klischee, der Johannesoffenbarung entlehnt, wo es heißt, nach Erscheinen des Messias beginne das tausendjährige Reich, in dem ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ aufgehen. Auch das „Dritte Reich“ beeindruckte die in der Wirtschaftskrise verunsicherten und politisch irritierten Bürger mit dem Versprechen auf eine völlige Erneuerung nach dem „Entscheidungskampf“ zwischen Gut und Böse. Das Böse, Schlechte, nicht lebenswerte Blut sind (und waren schon bei Luther) die Juden. Bei den Nazis kommen die Kommunisten hinzu.

Die sprachlichen Bezüge auf das Christentum sind frappierend. Hitler selbst gefiel sich in der Pose des Messias: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“, hatte er in seinem Buch „Mein Kampf“ verkündet. „Die Aufgabe, mit der Christus begann, die er aber nicht zu Ende führte, werde ich vollenden“, so empfahl er sich, stärker noch als der Sohn Gottes, dem deutschen Volk. Er, „der Führer“, war das jeder Religion unabdingbare Absolute, und wer in Frage stellte, dass Hitler samt seiner Gehilfen die gottgegebene Ordnung sei, bekam nicht erst im Jenseits die Krallen der Racheengel zu spüren.

Die liturgischen Ausdrucksformen waren dann auch das erste, was kritische Historiker bewogen hat, den Nationalsozialismus mit den Kategorien der Religionswissenschaft zu beschreiben. Eine aufdringliche Ikonographie – Hakenkreuz, SS-Ruhnen, Nazi-Adler, Standarten, Lichtsäulen, Pylonen und Flammenschalen – verwandelte die Feierräume der Nazis in geheiligtes Terrain. Trommelwirbel und Fanfarenklänge sorgten für die weihevolle Einstimmung. Die Magistralen zu den monumentalen Kultstätten und Hallen erinnerten während propagandistischer Großveranstaltungen an Prozessionsstraßen. Die Gestaltung der Podien war der Zentralität eines Altars angeglichen. Es gab Gemeinschaftserlebnisse in der Art einer Kommunion, zum Beispiel die Aufnahmeriten in die Hitlerjugend, Beitrittsmodi mit mythischem Glaubensbekenntnis, so bei der SA, SS, der „Leibstandarde Adolf Hitler“. Die Architektur wird gebauter Glaube. Die faschistische Ideologie und Praxis hat sich zu einer eigenen, weltlichen Sakralität verselbständigt. Obwohl die religiösen Mythen des Nationalsozialismus tausendfach widerlegt sind und die Realgeschichte 1945 einen Schlusspunkt hinter die Träume vom Tausendjährigen Reich gesetzt hat, halten die heutigen Neofaschisten an den alten Glaubenssätzen fest. Für die Abwehr der absurden Zumutung einer neu erweckten „deutschen Volksgemeinschaft“ könnte es hilfreich sein, stärker zu beachten, dass es sich hierbei um Religion handelt.