Geschichte wiederholt sich

5. September 2013

Auszüge aus der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar im Deutschen
Bundestag

März-April 2011

Nach dem Krieg mussten Sinti und Roma versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen. Vielen hatte man ihren gesamten Besitz genommen. Diejenigen, die die Nazi-Lager überlebt hatten, wurden innerhalb der eigenen Gemeinschaft aufgefangen. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs sind innerhalb unserer Gemeinschaft heute noch ganz klar zu spüren. Unsere zweite und sogar noch die dritte Generation spürt die Last dieser Vergangenheit. Wir wurden unserem Schicksal überlassen.

Die ungekürzte Rede findet sich im Internet unter http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/33128906_kw04_zoni_weisz/rede.html

Der 16. Mai 1944, meine Damen und Herren, ist der schlimmste Tag in der Geschichte der niederländischen Sinti und Roma. Die Nazis hatten angeordnet, dass in einer Großrazzia in den gesamten Niederlanden sämtliche »Zigeuner« inhaftiert und in das Durchgangslager Westerbork überstellt werden sollten – dies in Erwartung ihrer Deportation nach Auschwitz. Dabei wurden sie von der niederländischen Polizei unterstützt. Nach der Ankunft in Westerbork wurden die Sinti und Roma unverzüglich in der Strafbaracke interniert und kahlgeschoren.

Mit Hilfe eines »guten« Polizeibeamten, wahrscheinlich ein Mitglied der Widerstandsbewegung, ist es uns (seiner Tante und ihm, d. Red.) gelungen, der Deportation zu entgehen.

Hier stand der Zug nach Auschwitz: die Viehwaggons und darin meine ganze Familie. Auf der anderen Seite vom Bahnsteig stand ein normaler Personenzug. Als der Polizist seinen Hut abnahm, sind wir losgerannt und konnten in all dem Durcheinander auf den losfahrenden Personenzug aufspringen und so entkommen. In diesem Augenblick sah ich, wie der Zug nach Auschwitz abfuhr. Mein Vater schrie voller Verzweiflung aus dem Viehwaggon meiner Tante zu: »Moezla, pass gut auf meinen Jungen auf«. Das war das letzte, was ich von meinen Lieben sah. Dieses Bild hat sich für immer in meine Netzhaut eingebrannt. Ich war allein. Als Kind von sieben Jahren hatte ich alles verloren und fiel in ein unermesslich tiefes Loch.

Nach dieser wundersamen Flucht folgte eine Zeit der Entbehrungen und der Angst im Versteck. Tag für Tag die Angst, aufgegriffen zu werden. Versteckt in Wäldern, bei Bauern, in alten Fabriken und schließlich bei meinen Großeltern – bis zum Augenblick der Befreiung durch die Alliierten im Frühjahr 1945.

Nach der Befreiung kam die Unsicherheit. Vielleicht war sie noch schlimmer als die Angst während des Krieges. Lebte meine Familie noch, würde sie zurückkehren? Sie alle waren in Nazi-Konzentrationslagern ermordet worden. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern, mein kleiner Bruder und 21 Familienangehörige.

Nach der Befreiung gab es keine Stellen, die sich mit dem Schicksal der Sinti und Roma befassten oder Hilfe boten. Die Behörden taten nichts. Später beschrieb die niederländische Regierung dies wie folgt, ich zitiere: »Die Betreuung, wenn es sie denn gab, war frostig und distanziert«…

Heute erinnern wir an die Schrecknisse der Nazi-Ära, doch erlauben Sie mir, etwas zur Stellung von Sinti und Roma, meinem Volk, im heutigen Europa zu sagen. In zahlreichen Ländern sind wir die älteste Minderheitengruppe. Es ist menschenunwürdig, wie Sinti und Roma, insbesondere in vielen osteuropäischen Ländern wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien, behandelt werden. Der weitaus größte Teil ist chancenlos, hat keine Arbeit, keine Ausbildung und steht ohne ordentliche medizinische Versorgung da. Die Lebenserwartung dieser Menschen ist wesentlich geringer als die der dort lebenden »normalen« Bürger. Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung sind an der Tagesordnung.

In Ungarn ziehen Rechtsextremisten wieder in schwarzer Kluft umher und schikanieren und überfallen Juden, Sinti und Roma. Neonazis haben Roma ermordet, darunter einen fünfjährigen Jungen. Es gibt in Gaststätten und Restaurants wieder Schilder mit der Aufschrift »Für Zigeuner verboten«. Die Geschichte wiederholt sich. Diese Länder sind vor Kurzem erst der Europäischen Gemeinschaft beigetreten, bezeichnen sich selbst als kultiviert.

Es ist kein Wunder, dass seit einigen Jahren insbesondere Roma auf der Suche nach einem besseren Leben und nach Zukunft für ihre Kinder nach Westeuropa kommen. In manchen Ländern Westeuropas wie Italien und Frankreich wird man dann wieder diskriminiert, ausgegrenzt und lebt unter menschenunwürdigen Umständen in Ghettos. Man wird wieder des Landes verwiesen und in das Herkunftsland abgeschoben. Diese Menschen sind jedoch Einwohner von Ländern, die der Europäischen Gemeinschaft angehören.

Die Europäische Kommission hat in Person ihrer Vizepräsidentin Viviane Reding mit deutlichen Worten gegen diesen nicht hinnehmbaren Zustand Stellung bezogen. Ich hoffe, dass man die betreffenden Regierungen darauf auch weiterhin ansprechen wird. Wir sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten.

Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.

Meine Damen und Herren, ich möchte enden, indem ich die Hoffnung ausspreche, dass unsere Lieben nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen ihrer auch künftig gedenken, wir müssen auch weiterhin die Botschaft des friedlichen Miteinander verkünden und an einer besseren Welt bauen – damit unsere Kinder in Frieden und Sicherheit leben können.