Gewalt und Völkerrecht

geschrieben von Norman Paech

5. September 2013

Was bringt Frieden im Nahen Osten?

Sept.-Okt. 2006

Es mag immer noch Menschen geben, die den Nahen Osten mit dem heiligen Land identifizieren. Aber kaum noch jemand assoziiert mit ihm Begriffe wie Frieden, Recht und Menschlichkeit. Und in der Tat ist es die Region in der Welt, die in den letzten Jahrzehnten die kürzesten Phasen des Friedens und die geringste Achtung vor dem Völkerrecht erfahren hat. Die gegenwärtigen Kriege in Israel, Gaza und Libanon, lassen sogar befürchten, dass die Grundregeln des Kriegsvölkerrechts überhaupt keine Rolle mehr spielen. Was wurde aus dem Gewaltverbot und dem Selbstverteidigungsrecht der UNO-Charta, den Geboten zum Schutz der Zivilbevölkerung und den Regeln des Besatzungsrechts in den Genfer Konventionen?

Jeder Krieg entartet und sprengt die Grenzen des Kriegsrechts, je länger er dauert. Was als Grenzzwischenfall begann, eskalierte sofort zur Bombardierung der Städte in beiden Ländern, zum Einsatz von Waffen, die wir aus den Kriegen in Afghanistan und Irak kennen: Streubomben, bunker-buster, Phosphor und abgereichertes Uranium, selbst vor gut gekennzeichneten UN-Posten und Rot-Kreuz-Ambulanzen wird nicht Halt gemacht.

Das Völkerrecht achtet genau darauf, wer einen Angriff begonnen hat, und wem demgemäß das Selbstverteidigungsrecht zusteht. Doch war der auslösende Überfall der Hisbollah wirklich als ein Angriff des Libanon im Sinne des Artikel 51 UNO-Charta zu werten, selbst wenn man die Akte der Hisbollah dem Libanon zurechnen muss? Vieles spricht dafür, dass es sich auch hier nur wieder um einen Grenzzwischenfall als Provokation gehandelt hat, da sich Hisbollah sofort zurückzog. Der San Fancisco Chronicle zitiert Professor Gerald Steinberg von der Bar-Ilan-Universität: „Von allen Kriegen Israels seit 1948 war dieser der am besten vorbereitete.“

Alle Analysen beginnen mit den Überfällen von Hamas und Hisbollah auf israelische Grenzpatrouillen. Doch auch der Überfall auf den israelischen Posten von Gaza aus stellt sich anders dar, wenn man erfährt, dass unmittelbar davor israelisches Militär einen Arzt und seinen Bruder aus dem Gazastreifen entführt hatten. Wer hat hier auf wen reagiert? Grenzzwischenfälle, wie sie leider zum Alltag der feindlichen Auseinandersetzung zwischen Besatzer und Besetzten gehören. Allzu schnell wird vergessen, dass der Kern all dieser Konflikte und Attacken die Besatzung palästinensischen Territoriums ist. Ein nach wie vor völkerrechtswidriger Zustand, wie erst kürzlich wieder vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag festgestellt. Aller Widerstand dagegen, so er sich mit gewaltsamen Mitteln gegen militärische Einrichtungen der Okkupationsmacht richtet, wurde bereits 1974 von der UNO als legitime Ausübung des Selbstbestimmungsrechts anerkannt.

Die alten Kolonialmächte und die NATO-Staaten konnten sich allerdings nie richtig mit dieser Umkehrung ihres ehemaligen Gewaltmonopols abfinden. Nun dauern die Überfälle und Zerstörungen im Gazastreifen durch israelisches Militär immer noch an. Der völkerrechtlich gebotene Weg zur Befreiung bzw. Austausch von Gefangenen ist aber allein der der Diplomatie, dem sich Israel immer noch verweigert.

Wir haben uns leider nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 daran gewöhnen müssen, dass sich das Selbstverteidigungsrecht – die Referenz aller Kriege seitdem – in einem Auflösungsprozess befindet. Die strengen territorialen und zeitlichen Konturen wurden unter Führung der USA aber leider mit Unterstützung oder Duldung fast aller militärisch mächtiger Staaten zerschlissen. Ein gefährlicher Prozess, dessen Folgen in dem aktuellen Krieg besonders deutlich werden. Schon beruft sich die Türkei zur Rechtfertigung seiner Pläne, im Norden Iraks einzurücken und militärisch gegen die PKK vorzugehen, auf das Beispiel Israels und die Duldung durch den UNO-Sicherheitsrat.

Aber selbst wenn wir Israels Berufung auf sein Selbstverteidigungsrecht akzeptieren, die Bombardierung ziviler Einrichtungen und ganzer Infrastrukturbereiche weit über Beirut hinaus bis an die nördliche Grenze des Libanon und die anhaltenden Zerstörungen im Gazastreifen können nicht als Kollateralschaden der Selbstverteidigung durchgehen. Kriegsverbrechen bleiben Kriegsverbrechen, auch wenn der Raketenbeschuss israelischer Städte ebenso Kriegsverbrechen sind.

Irgendwann wird es zu einem Waffenstillstand kommen. Der Waffenstillstand wird aber wiederum nur eine Pause zwischen weiteren Eruptionen der Gewalt gewähren, egal welche Friedenstruppe an der Grenze aufgestellt wird. Solange nicht der Kern aller Konflikte, die unbestritten völkerrechtswidrige Besatzung und teilweise Annexion palästinensischen Territoriums, beseitigt wird, schafft jeder neue Plan nur neue Illusionen.

Je mehr wir uns mit der Erosion völkerrechtlicher Prinzipien und Regeln abfinden, desto dunkler die Perspektive für einen dauerhaften Frieden für Israelis, Palästinenser und Libanesen. Denn was die eine Seite als unerträgliche Einschränkung ihrer vermeintlichen Stärke abstreifen möchten, gilt der anderen als rettende Perspektive ihres Überlebens.