Halb Mensch – halb Jude?

geschrieben von Klaus Ulrich Rabe

5. September 2013

Ein Konferenzbericht über Schicksale von Menschen teiljüdischer
Herkunft

Mai-Juni 2011

Brigitte Gensch, Sonja Grabowsky »Der halbe Stern: Verfolgungsgeschichte und Identitätsproblematik von Personen und Familien teiljüdischer Herkunft«, 300 Seiten, Psychosozial-Verlag; 29,90 Euro

Die Herausgeberinnen stellten mir das Buch zur Rezension in der antifa zur Verfügung. Es ist das Ergebnis der Tagung »Sag bloß nicht, dass du jüdisch bist«, die der Verein »Der halbe Stern« e.V. im März 2009 in Berlin veranstaltete.

Im Blickfeld standen hier jene Menschen, die von den Nazis mit dem Stigma »Halbjude, Geltungs-jude, Vierteljude« usw.« versehen wurden und in das Netz der Rassenverfolgung gerieten. Die Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit der Thematik aus unterschiedlicher Sicht: biografisch, historisch, kirchengeschichtlich, psychotherapeutisch und theologisch. Tiefgründige Recherchen und Gedanken bieten dem Leser wertvolle Informationen und führen zu sehr interessanten Betrachtungen und Zusammenhängen.

So behandelt zum Beispiel Johannes Heil in seinem Artikel »Der unsichtbare Jude« die Frage, warum in Europa Juden schon Jahrhunderte vor der Nazi-Zeit verfolgt wurden. Vor allem die zum Christentum konvertierten Juden, von denen keineswegs alle freiwillig konvertiert waren.

Beate Meyer zeigt, dass der Begriff »Halbjude« als Bezeichnung für eine Menschen-Gruppe (Religion, Gesellschaft, Beruf usw.) völlig wirklichkeitsfremd und nicht vertretbar ist, da es für sie kein einheitliches Kriterium gibt.

Am Beispiel der Rhein-Main-Region behandelt Monica Kingreen die tödliche Verfolgung von als jüdisch klassifizierten »Mischehen« sehr detailliert und eindrucksvoll.

Jana Leichsenring und Katrin Rudolph befassen sich mit den Entscheidungsspielräumen kirchlicher Handlungsträger zwischen Legalität und Illegalität in Berlin. Das Resümee ihrer sorgfältigen Recherchen lautet: »In der gesamten NS-Zeit reagierte man auf politische Vorgaben, lavierte, nutzte man Handlungsvorgaben oder nutzte sie eben auch nicht. … Uns bleibt die Klage über das Unterlassene, vor allem aber auch die Anerkennung für einzelne, die sich im Zweifel nicht davor scheuten, immer wieder ihr eigenes Leben zu riskieren.«

Jürgen Müller-Hohagen setzt sich mit der leider bis heute aktuellen Frage auseinander: Wieso wird dieser Begriff des »Halbjüdischen« so unbedacht verwendet?

Und wieso tun dies politisch aufgeschlossene, gebildete, liberale demokratische Personen?

Dem Buch liegt eine DVD bei. Hier kommen Menschen zu Wort, die von der Rassenverfolgung der »Halbjuden« mehr oder weniger unmittelbar betroffen wurden. Sie stellen unter anderem dar, wie es ihnen gelang, nach der militärischen Niederlage der Nazis wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen, eine Identität zu finden, ein sinnerfülltes Leben zu gestalten. Doch zu welchem Preis!

Fast alle kommen zu der bitteren Erkenntnis, die zum Thema der Tagung wurde:

»Sag bloß nicht, dass du jüdisch bist«

Als ebenfalls »Betroffener«, erinnere mich an die Rückkehr aus dem Lager in meine Heimatstadt. Wir wurden überall gebraucht, dringend gebraucht, da die führenden Nazis aus ihren Machtpositionen entfernt worden waren. Die SPD wartete darauf, mich als ihren Vertreter für Rassenverfolgte in die Kommission zu schicken, die über die Anträge zur Anerkennung als »Opfer des Faschismus« zu entscheiden hatte. Die Jusos empfingen mich als einen Genossen, der »es« selbst erlebt hatte.

Der Schulrat brauchte Neulehrer für die vakanten Stellen der Nazi-Lehrer. Wer hatte schon ein – wenn auch nach den Nazigesetzen illegales – Abitur?

Die Verwaltung, die Wirtschaft und viele Andere brauchten dringend qualifizierte Antifaschisten. Die Universität Leipzig hatte meine Geschwister und mich schon für Medizin immatrikuliert bevor überhaupt der Lehrbetrieb begonnen hatte.

Wir, die wir von den Nazis als »Halbjude« stigmatisiert wurden, hatten somit eine neue Identität, waren wertvolle, geachtete Mitglieder in diesem Teil Deutschlands, in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Beiträge im vorliegenden Buch eine besondere Bedeutung. Sie fordern auf, die Betrachtungsweisen anderer kennenzulernen, sich mit ihnen auseinander zu setzten und sie mit fundiertem Wissen und eigenen Erfahrungen zu vergleichen. Damit besteht die Möglichkeit, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen, dem Untertitel des Buches, »Verfolgungsgeschichte und Identitätsproblematik von Personen und Familien teiljüdischer Herkunft« tatsächlich zu entsprechen.

»Der halbe Stern« ist es wert gelesen zu werden, sein Inhalt bereichert und regt zu Überlegungen an, die für uns Antifaschisten zu einer nützlichen Quelle für ein realistisches Geschichtsbild werden können.