Herr Richter, was spricht er?

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Die Justiz als Spiegel politischer Verhältnisse

März-April 2013

Walter Kaufmann »Im Fluss der Zeit« Dittrich Verlag, Berlin 2010, 19,80 EUR

Der Schriftsteller Walter Kaufmann, dessen Exil ihn durch drei Kontinente führte, erzählt in seinen Memoiren eine heute kaum vorstellbare Geschichte, die er im Herbst 1954 in Australien erlebte. Als Seemann und Gewerkschafter nahm er an einer Gerichtsverhandlung gegen Bill Bird, Chef der Seeleutegewerkschaft von Victoria, teil, der der Spionage für die Sowjetunion verdächtigt wurde. Als dieser alle Fragen des Richters, außer jener, ob er Mitglied der Kommunistischen Partei sei, unbeantwortet ließ, wollte ihn der erboste Vorsitzende im Gerichtssaal verhaften lassen.

»Die Reaktion im Zuschauerraum war hart und plötzlich. Die Seeleute sprangen auf, durchbrachen die Schranken, hoben Bill Bird aus dem Zeugenstand und trugen ihn auf den Schultern aus dem Gebäude. Weder Gerichtsdiener noch Wachmänner wagten einzugreifen, sie wagten sich auch nicht auf die Straße, wo laut durch ein Sprachrohr zu hören war, dass auch nicht ein Schiff den Hafen von Sidney verlassen würde, sollte Bill Bird verhaftet werden.«

Der heute verbreitete Mythos von der über der Gesellschaft schwebenden, unabhängigen Justiz, war in der Zeit des Kalten Krieges offenbar noch unbekannt. Die Seeleute parierten so mit ihren Mitteln einen Angriff, von dem sie wussten, dass er ihnen allen galt und in dem die Justiz nur die Rolle des ausführenden Organs übernommen hatte.

Dass sich diese Rolle trotz aller Mythen bis heute kaum verändert hat, bewies vor kurzem wieder einmal die sächsische Justiz. Ohne Beweise, im Gegenteil – trotz der Entlastung durch den einzigen Zeugen – verurteilte am 16. Januar der Richter Hans-Joachim Hlavka vom Dresdner Landgericht den Antifaschisten Tim H. zu einem Jahr und zehn Monaten Haft. Sein Verbrechen: Die Beteiligung an den Blockadeaktionen gegen den Naziaufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden. Wer dabei gewesen ist weiß, wie massiv und unverhältnismäßig damals die Polizei an mehreren Blockadepunkten gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten jeden Alters vorging. Tim H. soll derjenige gewesen sein, der vor dem Durchbrechen einer Polizeisperre durch ein Megaphon den Satz »Kommt nach vorne« gerufen hat. Das bescherte ihm eine Anklage wegen besonders schweren Landfriedensbruchs, Körperverletzung und Beleidigung. Bewiesen werden konnte ihm der Tatvorwurf, wie gesagt, nicht. Um so wichtiger ist es, sich die Urteilsbegründung anzusehen. Sie ist der eigentliche Skandal dieses Prozesses. Denn Hlavka leitete seine Ausführungen mit den Worten ein, die Dresdner hätten von den Demonstranten – linken wie rechten – die Nase voll und Tim H. müsse sich auch anrechnen lassen, was andere getan haben.

Ist es also schon so weit gekommen, dass sich ein Richter und ein Staatsanwalt an einem Landgericht berechtigt fühlen dürfen, fundamentale Grundsätze wie die Unschuldsvermutung und den Nachweis einer persönlichen Schuld außer Kraft zu setzen und dies auch noch unter Berufung auf eine Art »gesunden Volkempfindens«? Oder handelt es sich hier um einen Test, wie weit man das Recht im Augenblick politisch beugen kann, ähnlich dem Vorgehen der Staatsanwälte aus Baden-Württemberg, die vor ein paar Jahren angefangen hatten, die Träger von Stickern mit durchgestrichenen Hakenkreuzen zu verfolgen?

In beiden Fällen heißt die einzig richtige Antwort: Solidarität! Am 19. März folgt vor dem Dresdner Landgericht der nächste Prozess gegen einen Teilnehmer der Blockaden von 2011, diesmal gegen den Jugendpfarrer Lothar König aus Jena, der ebenfalls wegen schweren aufwieglerischen Landfriedensbruches angeklagt ist. Der Prozess gegen den Geschäftsführer der Berliner VVN-BdA, Marcus Tervooren, unter dem gleichen Tatvorwurf, ist im Augenblick noch nicht terminiert.

Gemeint sind wir alle. Gezielt wird auf das Recht zu demonstrieren. Es wird ausgehöhlt durch skandalöse Sprüche wie jenen gegen Tim. Wegen seiner Unverletzlichkeit wird es den Nazis immer wieder zugesprochen. Doch für uns würde man es gern beschneiden, denn offensichtlich steht der Feind noch immer links. Gehen wir nach vorne.