Kein Knock out in Kiew

geschrieben von Martin Schirdewan

5. September 2013

Doch eine Aufwertung nationalistischer Positionen

Jan.-Feb. 2013

Die Ukrainerinnen und Ukrainer hatten am 28. Oktober 2012 die Wahl. Angesichts der schwierigen innenpolitischen Situation des Landes und den gravierenden Auswirkungen der internationalen Finanzkrise auf die Ukraine blickte Europa gespannt auf das Ergebnis. Welche Richtungsentscheidung würde das bürgerliche Lager fällen, wie würden die radikalen Kräfte abschneiden? Würde es in einem weiteren osteuropäischen Land zu einer Stärkung nationalistischer Positionen kommen?

Vergessen war die Fußballeuropameisterschaft und der moderne politische Boxkampf drängte sich wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Würde es der nach wie vor inhaftierten Julia Timoschenko, Symbolfigur der Sammelbewegung der Opposition Allukrainische Vereinigung Vaterland, gelingen, die seit Jahren bestehende Auseinandersetzung zwischen den Blöcken um Präsident Viktor Janukowitsch und der ihn tragenden Partei der Regionen und der Allukrainischen Vereinigung Vaterland für sich zu entscheiden?

Würden etwa der in die Politik drängende Boxer Vitali Klitschko und seine Partei UDAR – passend mit Fausthieb oder Schlag zu übersetzen – eine Regierungsbildung jenseits Janukowitschs ermöglichen? Und welche Rolle würden die Kommunisten einerseits und die ukrainischen Rechtspopulisten der Freiheit andererseits spielen?

Die Ukraine wird gern dargestellt als ein Land, das noch nicht in Europa angekommen sei. Ein Land, in dem die regierenden politischen Kräfte eine Annäherung an die EU und den europäischen Wertekontext blockieren. Weil – so die geläufige Begründung – das postsowjetische Erbe die korrupten Eliten (mit Ausnahme der Erlöserin Julia Timoschenko) dazu treibt, die Europäisierung der Ukraine zu hintertreiben. Sicherlich, gemessen an geltenden Menschenrechtsstandards und an Grundfreiheitsrechten stimmt vieles nicht in dem Land, das von jeher Europa, Russland und den Nahen Osten miteinander verband. Da darf die Kritik nicht verstummen.

Doch ist nach Ansicht des Autors die Richtungsentscheidung, vor der die Ukraine vor den Wahlen stand und fortgesetzt steht, eine Entscheidung über den Modernisierungspfad, den das Land zu beschreiten hat. Einerseits blicken die Eliten auf ein Europa in der Krise und auf einen Hegemon USA, der an allen Ecken und Enden der Welt herausgefordert wird. Andererseits blicken sie auf Gesellschaften im Aufschwung, die unglaublichen Reichtum akkumulieren und dafür größte soziale Ungleichgewichte in Kauf nehmen wie Russland und China. Einerseits also ein an seine Grenzen stoßendes neoliberales Projekt und andererseits ein unter quasi autoritärer Führung prosperierendes gesellschaftspolitisches Projekt, das sich anschickt, das 21. Jahrhundert – bislang auch auf Kosten der sozialen Situation breiter Bevölkerungsschichten – zu dem seinen zu machen. Welchen Weg soll die Ukraine beschreiten? Vor dieser Wahl standen die Wählerinnen und Wähler.

Und sie standen zugleich vor der Wahl, wie mit ihrem komplizierten historischen Erbe, mit der Multiethnizität ihres Landes und der extrem schwierigen sozialen Lage angesichts der schleppenden Modernisierung und der Auswirkungen der Finanzkrise umzugehen sei.

Die beiden den Wahlsieg unter sich ausmachenden großen Machtblöcke sind Spiegelbilder der unterschiedlichen möglichen Entwicklungspfade. Janukowitsch steht für eine eher in Richtung Osten gerichtete Modernisierung, Timoschenko für eine in Richtung Westen führende. Janukowitschs Partei der Regionen, der Wahlsieger mit 30 % der Stimmen, agierte im Wahlkampf sehr geschickt. Einerseits griff sie pro-russische Positionen auf, um die russischstämmige Bevölkerung für sich zu gewinnen, andererseits bediente sie sich im sozialen Forderungskatalog der Kommunisten. Sie trat als Verteidiger der russischen Sprache und Kultur und als Hüter der sozialen Stabilität auf. So gelang es ihr, die nach Westen tendierende und damit russische Bevölkerungsgruppen nicht vertretende Allukrainische Vereinigung Vaterland mit rund 25 % der Stimmen auf den zweiten Platz zu verweisen.

Dem Politboxer Klitschko gelang aus dem Stand mit seinem Fausthieb UDAR mit knapp 14 % der Sprung auf den dritten Platz im Parteiensystem. Dicht gefolgt von den Kommunisten, denen es trotz der thematischen Konkurrenz durch die Partei der Regionen gelang, mit Sowjetpatriotismus, klarer Russophilie und entsprechenden sozialen Forderungen gut 13 % der Stimmen zu erringen. Diesem satten Gewinn von knapp 8 % steht ein noch größerer Stimmenzuwachs der Rechten entgegen. Die Partei Swoboda (Freiheit) erreichte insgesamt gut 10 % der Stimmen bei einem Zuwachs von allein 9 %.

Die Freiheit vertritt dabei die den Kommunisten entgegen gesetzte Traditionslinie. Sie ehren die Nazikollaborateure, hetzen gegen Jüdinnen und Juden, streben eine Bevorzugung der ethnischen Ukrainer an. Ihre klare nationalistische Politik wird als Sozialnationalismus bezeichnet. Ihr politisches Profil weist starke Gemeinsamkeiten mit den rechtsextremen Parteien des Baltikums auf.

Die Polarisierung der europäischen Gesellschaften angesichts der internationalen Finanzkrise und ihrer Auswirkungen wirkte sich auch auf das Wahlverhalten in der Ukraine aus. Während sich die bürgerlichen Kräfte in der Ukraine hauptsächlich angesichts der Frage der zukünftigen Entwicklung des Landes paralysieren, erodiert der soziale Zusammenhalt zunehmend. Hier wie dort führt die soziale Spaltung zu einer fortschreitenden Polarisierung und damit Destabilisierung der Gesellschaft.