Lebensweg in vier Sätzen

5. September 2013

Auszüge aus der Rede von Bürgermeister Olaf Scholz

Mai-Juni 2012

Am 26. April überreichte Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg, das große Bundesverdienstkreuz an Esther Bejarano.

Esther Bejarano wird im Dezember 88 Jahre alt. Sie steht heute noch auf der Bühne und macht Musik… Und sie führt als Zeitzeugin unermüdlich Gespräche in ungezählten Schulen, berichtet von der erschütternden Geschichte ihrer selbst und ihrer Familie unter dem Hakenkreuz und warnt die Jugendlichen vor Rechtsradikalismus. Aber sie klärt nicht nur auf, sie mischt sich auch ein, immer sehr persönlich, auf der Straße, wenn es gilt, gegen Nazi-Aufmärsche zu protestieren, und auch gegenüber der Politik, wenn sie das Gefühl hat, dass verharmlost oder nicht konsequent genug gegen rechtsextremistisches Gedankengut und ihre Verfechter vorgegangen wird…

Zum 65. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Dezember 2010 erschien im Hamburger Abendblatt ein Artikel von Vanessa Seifert unter der Überschrift: »Musik gegen den Tod«. Ich will aus dem Text, für den die Autorin mit Recht einen Preis erhalten hat, einige Passagen zusammenfassen. Darin erzählt Esther Bejarano von der Geschichte ihrer Verfolgung in Hitler-Deutschland. Vanessa Seifert hat diese Lebensgeschichte entlang der Schicksalssymphonie von Beethoven erzählt, gegliedert in vier Sätze.

Der erste musikalische Satz entspricht dem Klang der Kindheit, sagt Esther Bejarano, ihre Herkunftsfamilie heißt Loewy. Ihr Elternhaus in Saarbrücken sei von Musik erfüllt gewesen…. Esther, genannt »Krümel«, ihre musikalische Begabung wurde schnell deutlich. Schon als Sechsjährige begann sie mit dem Klavierspiel…

Als das Saarland dem Deutschen Reich angegliedert wurde, wuchs auch dort der Antisemitismus…. Die Familie zog nach Ulm und von dort nach Breslau um. Dort schickten die Eltern ihre 16jährige Tochter in ein Palästina-Vorbereitungslager, damit sie Deutschland den Rücken kehren könnte. Doch es war bereits zu spät…

Zweiter Satz. Moll. Die Todesmärsche von Auschwitz. Esther wurde zunächst in ein Arbeitslager bei Fürstenwalde gesteckt… Zwei Jahre später, am 20. April 1943, wurde sie wie tausend andere Juden in einen Viehwaggon gesperrt und mit dem Zug nach Auschwitz deportiert… Dort wurde ihr die Nummer 41948 auf den Arm tätowiert und einem Arbeitskommando zugeteilt… Eines Abends wurden Frauen für ein »Mädchenorchester« gesucht. …. Esther bestand die Prüfung und von da an musste sie – gemeinsam mit 42 anderen Frauen – morgens und abends Märsche spielen…

Dritter Satz: Die Melodie der Freiheit. Esther galt wegen ihrer christlichen Großmutter als Vierteljüdin, deshalb durfte sie Auschwitz und das Mädchenorchester nach sieben Monaten verlassen. Der berüchtigte Arzt Dr. Mengele schickte sie nach Ravensbrück, ins dortige KZ, wo sie zur Arbeit in der Rüstungsproduktion gezwungen wurde. Nach der Auflösung des Lagers dort gelang Esther – zusammen mit sechs anderen jungen Frauen – die Flucht. In dem mecklenburgischen Dörfchen Lübz begegneten sie amerikanischen und sowjetischen Soldaten, ihren Befreiern. Gemeinsam tanzten sie um ein riesiges brennendes Hitlerbild, mitten auf dem Marktplatz. Es war der 8. Mai. »Am 8. Mai wurde ich zum zweiten Mal geboren«, sagt Esther Bejarano.

Esther Loewy ging zunächst nach Palästina… Die Vergangenheit wollte sie hinter sich lassen. Sie traf ihren Mann Nissim Bejarano, heiratete ihn 1950, und gebar zwei Kinder, Edna und Joram. Doch das Klima tat der Familie nicht gut. Weder gesundheitlich noch politisch, wie es heißt. 1960 entschloss sich die Familie deshalb, zurück nach Deutschland zu ziehen…

Vierter Satz: Esther Bejarano eröffnete ein kleines Modegeschäft am Hellkamp in Eimsbüttel. Sie war politisch nicht engagiert und sprach nur selten über ihre Zeit in Auschwitz. Doch ein Schlüsselerlebnis veränderte das Schweigen: Eines Tages im Jahr 1978 baute ausgerechnet eine Gruppe Neonazis einen Stand vor ihrem Laden in Eimsbüttel auf. Esther Bejarano sprach die jungen Männer an, sie erzählte ihnen von Auschwitz – und erntete nichts als Hohn und Spott.

Esther Bejarano erinnert sich, wie diese Begegnung auf sie wirkte. Da sei ihr alles wieder hochgekommen. Die Faschisten seien zurück, das dürfe sie nicht zulassen. Sie suchte Kontakt zu anderen Auschwitz-Überlebenden, trat der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bei, sie engagierte sich als Vorsitzende des deutschen »Auschwitz-Komitees« und in der Friedensbewegung…

Wir, die nach dem Krieg Geborenen, sind Ihnen, Esther Bejarano, zu Dank verpflichtet. Gut, dass Sie bei uns sind! Ihr Engagement gegen Rechts ist mehr als nur ein ermutigendes Beispiel, es ist uns ein Vorbild.