Lücken im Gesetz

geschrieben von Gerhard Fischer

5. September 2013

Sie verhindern bis heute angemessene Entschädigungen

Nov.-Dez. 2008

Es kamen zum Beispiel von den 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern 3,3 Millionen um. Aber privaten Organisationen, etwa dem in Berlin ansässigen Verein »Kontakte«, bleibt es vorbehalten, solchen Nazi-Opfern oder ihren Hinterbliebenen in den Nachfolgestaaten der UdSSR zu helfen.

Wenn es darum geht, Opfer des Naziregimes zu entschädigen, knöpft der bundesdeutsche Staat seit jeher seine Taschen fest zu. Nach seiner Gründung mussten sieben Jahre vergehen, bis eine gesetzliche Grundlage für ein bundeseinheitliches Vorgehen in der Frage der innerstaatlichen »Wiedergutmachung« zustande kam – und auch dieses »Bundesentschädigungsgesetz« wies zwei klaffende Lücken auf.

Zum einen ging gemäß § 6 leer aus, wer als Gegner der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« angesehen wurde. Das waren alle, die unter das KPD-Verbotsurteil fielen, und im Grunde alle, die von den politisch motivierten Strafrechtsergänzungsgesetzen seit 1951 betroffen waren. So erwies sich der Bonner Staat als echter »Rechtsnachfolger« des Hitlerreiches.

Zum anderen blieb von Leistungen ausgeschlossen, wer nicht nachweisen konnte, dass seine »Schädigung« unmittelbar »aus Gründen politischer Gegnerschaft« oder »der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung« erfolgt war. Nicht anspruchsberechtigt waren also Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, Opfer der faschistischen Militärjustiz, Zwangsterilisierte, »Euthanasie«-Geschädigte, Opfer von NS-Zwangspsychiatrie, um nur einige der »vergessenen« Opfergruppen zu nennen. Überhaupt: »Entschädigung« – was für ein armseliges Wort angesichts der Nazi-Verbrechen! Haben die wirklich nur »Schäden« verursacht, und kann man die mit Geld »wieder gutmachen«? Wird das der politisch-moralischen Verantwortung für die unermessliche Schuld gerecht, die in der Nazizeit auf den deutschen Namen geladen wurde und die durch »Entschädigung« nur zu einem ganz geringen Teil beglichen werden kann? Zu befürchten ist, dass regierungsamtliches Handeln von solchen Erwägungen kaum beeinflusst wird.

Ein einziges Mal in der bundesdeutschen Geschichte schien sich bessere Einsicht anzudeuten: Im Oktober 1998, vor einem Jahrzehnt also, vereinbarten die Führungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der Bildung ihres Bonner Koalitionskabinetts, eine Bundesstiftung »Entschädigung für NS-Unrecht« auf den Weg zu bringen. Doch bei dem Versprechen ist es geblieben. Lediglich für den Problemkreis »NS-Zwangsarbeit« kam eine neue gesetzliche Regelung zustande.

Doch dieses »Entschädigungsgesetz« vom 2. August 2000, mit dem die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« errichtet wurde, ist lückenhaft. Es schreibt einerseits Entschädigung nur für Zwangsarbeit in der Industrie und im öffentlichen Bereich vor. Zwangsarbeit in der Landwirtschaft beispielsweise kann entschädigt werden, muss aber nicht. Mit anderen Worten: Die ausländischen Partnerorganisationen der deutschen Stiftung, die ja für die Mittelvergabe verantwortlich waren, konnten über solche Zahlungen nach eigenem Belieben entscheiden. Andererseits stellt das Gesetz in § 11 Absatz 3 lapidar fest: »Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung.« Die VVN-BdA hat bei der Vorbereitung des Gesetzes darauf aufmerksam gemacht, dass diese pauschale Formulierung dem geschichtlichen Sachverhalt keinesfalls Rechnung trägt. Nazideutschland nämlich setzte sich bedenkenlos über die völkerrechtlichen Bestimmungen zur Behandlung von Kriegsgefangenen hinweg und setzte sie an der »Heimatfront« oder in den besetzten Ländern massenweise für Zwecke seiner Kriegführung ein.

Dabei entsprachen die Umstände in den Kriegsgefangenenlagern ganz und gar den Merkmalen, die das Gesetz als anspruchsbegründend nennt: »unmenschliche Haftbedingungen, unzureichende Ernährung und fehlende medizinische Versorgung«. Man sieht: Noch längst nicht alle Verpflichtungen, die der Bundesrepublik Deutschland aus der faschistischen Vergangenheit erwachsen, sind eingelöst.