Migrationshintergrund?

geschrieben von Irene Runge

5. September 2013

Plädoyer für Einwanderungsgeschichte als Schulfach

Nov.-Dez. 2007

Auf Deutsch gibt es sonderbare Sprachhemmungen. Beispielsweise dann, wenn es um die Einwanderung und die Einwanderer geht. Da mussten neue Begriffe her, weil das Wort »Ausländer« all jene überging, die längst deutsche Staatsangehörige waren. So erfand man sich die »einheimischen Ausländer« und »fremden Deutschen«, begann, mit dem Wort »Migrationshintergrund« auch statistisch zu jonglieren, und korrigierte politisch die Tatsache, dass es hierzulande Menschen mit – und auch ohne Migrationserfahrungen gibt.

Solche Rederegeln verhindern, dass neue Erkenntnisse mehr sind als nur Worte. Wenn bereits im Jahr 2010 rund 40 Prozent (!) aller unter Vierzigjährigen in unserem Land irgendeinen familiären oder eigenen Migrationshintergrund haben werden, könnten neue Fragen entstehen. Beispielsweise die, ob es überhaupt wichtig ist, dass fast die Hälfte dieser Altersgruppe nicht-deutscher Herkunft sein wird. Vermutlich wird sich das am stärksten in den großen Städten, und weniger sichtbar auf dem platten Lande zeigen. Ganz natürlich stehen jene an der Spitze der Entwicklung, deren Groß- oder Urgroßeltern einst aus der Türkei in die Bundesrepublik eingewandert und hier geblieben sind, gefolgt von denen aus dem längst zerfallenen Jugoslawien. Heute leben hierzulande Angehörige aus rund 200 Ethnien, doch nicht alle werden statistisch zur Kenntnis genommen. Das betrifft nicht nur die Kurden mit türkischer oder sonstiger Staatsangehörigkeit. Wie kommt es eigentlich, dass solche Themen in den politischen Debatten zwischen links und Mitte nicht zu hören sind?

Gedankliche und administrative Hilflosigkeit machen sich auch dann breit, wenn es um das Thema »Deutsche mit Migrationshintergrund« geht. Dazu gehören beispielsweise die Spätaussiedler, aber auch jene in die väterliche Heimat einwandernden Kinder der vor den Nazis ins Ausland geflohenen Juden. Auch das verschweigt die Politik, die dem Alltag zumindest Richtungen vorgeben sollte. Aber Staatsangehörigkeit ist nicht zwingend Nationalität, doch diese Frage wird dem rechten Rand überlassen. Für den bleibt fremd, wer sichtbar anderer Herkunft ist und zwar ungeachtet seines Bürgerrechts. Das allein wäre Grund genug für linke politische Gegenwehr.

Diese feste Burg kann nicht von langer Dauer sein. wenn alsbald jedes zweite Kind eine andere denn die bislang übliche deutsche Familiengeschichte haben wird. Ganz zweifellos sind diese Kinder auch Deutsche. Was denn sonst? Sie werden sich regional definieren, je nachdem, wo sie geboren sind: Berlin, Nürnberg, Luckenwalde oder Dresden, und sie werden stolz auf ihre doppelte und dreifache, auf ihre nationalen, ethnischen und religiösen Identitäten sein. Diese Kinder verfügen per Geburt über den Schatz der vor ihnen gewesenen Generationen, über längst nicht vergessene unterschiedliche familiäre Einwanderungsvergangenheiten, über Sprachfertigkeiten und kulturelle Vielfalt. Das ist ein Bildungsvorteil.

Die Einwanderer der ersten Generation haben noch Migrationserfahrungen, aber es fragt kaum jemand danach. Schon über 1,2 Millionen Kinder von eingebürgerten oder ausländischen Eltern haben bei der Geburt zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Wie sie sind rund 1,5 Millionen Kinder, bei denen ein Elternteil Ausländer, Spätaussiedler oder Eingebürgerter ist, keine Migranten und sie haben demnach keine Migrationserfahrungen.

Wie es weitergeht? In wenigen Jahrzehnten gestalten solche Kinder, denn an anderen wird es mangeln, ganz ohne Verweis auf die Herkunft ihrer Vorfahren die deutsche und europäische Politik, Wirtschaft und Kultur. Dann wird es in der Schule das Fach Einwanderungsgeschichte geben, und die letzten der ersten Einwanderer werden als Zeitzeugen gefragt sein. Wird man das aktuelle deutsche Zuwanderungs- und Flüchtlingsbegrenzungsgesetz dann überhaupt noch verstehen?