Skandalöser Unwille

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Dokumentiert in einer verkommenen Baustelle

Nov.-Dez. 2008

Neben den Orten faschistischer Vernichtungsstätten, Zitaten von Roman Herzog und Altbundeskanzler Helmut Schmidt soll dieser Vers aus demGedicht »Auschwitz« des italienischen Rom Santino Spinelli auf dem Mahnmal zu lesen sein:

»Eingefallenes Gesicht
erloschene Augen
kalte Lippen
Stille
ein zerrissenes Herz
ohne Atem
ohne Worte
keine Tränen«

Eine Baustelle am Simsonweg im Zentrum der deutschen Hauptstadt. Für den Berlinbesucher ist er der kürzeste der Weg, der durch eine gepflegte Grünanlage vom Brandenburger Tor zum Sitz des Bundestages im ehemaligen Reichstagsgebäude führt. Der Weg führt vorbei an einer ungewöhnlich verwahrlosten Baustelle. Sie passt so gar nicht in dieses Umfeld. Sie erweckt den Eindruck, als sei sie nach der Pleite des Bauherrn fluchtartig von den Bauarbeitern verlassen worden. Aufgeschüttetes Erdreich am Rande einer ausgehobenen Grube. Unkraut wuchert. Bretter liegen herum. Aufgestapelte Steine. Abfall zuhauf, von Passanten über die schlecht gesicherten Absperrgitter geworfen.

Ein Mahnmal in Gestalt eines Brunnens sollte hier entstehen. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch auf einer großen Tafel zu lesen: »Hier entsteht das Nationale Holocaust Denkmal für die im nationalsozialistisch besetzten Europa ermordeten Sinti und Roma aufgrund der Zusagen des Berliner Senats, der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages.« Dazu ein Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog aus dem Jahre 1997: »Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns und dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und famlienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.«

Unvollständige Skandalchronik:

Zwölf Jahre nach dem ersten Beschluss der Bundesregierung zum Bau eines Mahnmals hatte der Berliner Senat im Jahre 1994 das Gelände am Tiergarten bereit gestellt. Im Juli 2002 wurde im Gespräch zwischen dem Beauftragen der Bundesregierung und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Einverständnis über den Ort und den Denkmalsentwurf des israelischen Architekten Dani Karavan erzielt. Es folgten die einstimmigen Bestätigung des Denkmalbaus durch den Bundesrat am 20. Dezember 2007 und am 22. Januar 2008 eine weitere Einigung von Bundesregierung und Zentralrat Deutscher Sinti und Roma über die Gestaltung des Denkmals.

Die Tafel ist weg. Keine Spur von einem Mahnmal, über dessen begonnene Bauvorbereitungen und Grundsteinlegung »noch in diesem Jahr« -WeltOnline voreilig am 9. April 2008 berichtet hatte. Das Gerüst ist rechts im Bild noch zu sehen. Platz wäre also für eine Texttafel auf der entsprechend den Gegebenheiten des politischen Skandals zu lesen sein müsste: »Hier entsteht demnächst vielleicht das Nationale Holocaust Mahnmal für die im nationalsozialistischen Europa ermordeten 500.000 Sinti und Roma aufgrund des Beschlusses der Bundesregierung von 1982…« So lange warten die Sinti und Roma bereits auf die Einlösung der Zusage der Regierung. Im Dezember wird der Bundesrat wie in jedem Jahr in einer zur Routine verkommenen Sitzung der 500.000 ermordeten Sinti und Roma, darunter 21.000 Deutsche, anlässlich des am 16. Dezember 1942 unterzeichneten »Au-schwitz-Erlasses« durch den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, gedenken. Der Erlass war Signal zur Deportation und »Endlösung der Zigeunerfrage« in den Gasöfen von Auschwitz.

Die Auseinandersetzung mit dem Antiziganismus und seinen historischen Wurzeln hatte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Romani Rose, am diesjährigen Tag der Begegnung an diesem Ort als eine fundamentale Voraussetzung für die Überwindung von gesellschaftlicher Ausgrenzung und rassistischer Gewalt bezeichnet. Im Reichstag sind seine Worte nicht angekommen. Immer noch nicht.