Tabus und Geheimnisse

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Ein Konferenzband dokumentiert ihre Aufdeckung

Sept.-Okt. 2006

Eckart Spoo (Herausgeber):

„Tabus bundesdeutscher Geschichte“, Ossietzky Verlag Hannover, 248 Seiten, Euro 15,00

Tabus in der bundesdeutschen Geschichte? Gibt es die überhaupt? Das zu ergründen und nach den Ursachen dafür zu forschen hatte sich Ende Oktober 2005 in Hamburg ein Kongress mit dem Titel „Tabus der bundesdeutschen Geschichte“ (ohne Fragezeichen) zum Ziel gesetzt. Die Einladung erging von der 1998 gegründeten Bürgerinitiative für Sozialismus, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Geschichtswerkstatt St. Georg e. V., dem ASTA der Universität Hamburg und der in Berlin erscheinenden Zeitschrift „Ossietzky“ Nun liegen, vom Ossietzky Verlag herausgegeben, die Hamburger Kongressmaterialien vor. Untergliedert in vier Abschnitte: „Selbstentnazifizierung“, „Und andere Kontinuitäten“, „Opposition unerwünscht“ und „teile und herrsche“ ist hier versammelt, was unter anderem Historiker, Zeitzeugen und Publizisten in den 32 Vorträgen, den regen Diskussionen in fünf Arbeitsgruppen und einer resümierenden Podiumsrunde an Leichen aus so manchem Kellern der altbundesdeutschen Geschichte hervorgeholt haben. Angesichts gegenwärtiger Geschichtsschreibung, die sich erklärtermaßen noch umfassender der Durchleuchtung der Geschichte der „zweiten deutschen Diktatur“, des „Unrechtsstaates“ DDR widmen will, gemessen an der untadligen Entwicklung des anderen deutschen Teilstaates, liegt hier ein höchste informative und anregende Lektüre vor. Ist die Geschichte der Alt-BRD tatsächlich so beispielhaft verlaufen? Welche Auswirkungen hatte der zur Staatsdoktrin erhobene Antikommunismus nicht nur auf die innenpolitische Entwicklung der BRD? Kann die Geschichte des einen deutschen Staates überhaupt ohne die das anderen verstanden werden? Fragen, die beispielsweise in Heinrich Hannovers Betrachtung eines halben Jahrhunderts antikommunistisch geprägter „Rechtsprechung“ als Auftakt zum Komplex „Verschwiegene Geschichte“ Antworten finden. Otto Köhlers Vortrag über die Selbstentnazifizierung am Beispiel des ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVG) Höpke-Aschoff, ein „hochrangiger Mitarbeiter der Leichenfledderer und Plünderungsspezialisten“ im Dienste der faschistischen „Treuhandstelle Ost“, ist ein Meisterstück des demokratischen Enthüllungsjournalismus. Helmut Kramer, Richter an Oberlandesgericht i. R., konstatierte quasi in Fortsetzung eines Vortrages von Norman Paech: „Indem der Bundesgerichtshof die Verfolgung der Wehrmachtsverbrechen schwer behinderte, flankierte er die auf die Wiederaufrüstung gerichtete Politik der Adenauer-Ära.“ Der Hamburger Völkerrechtler hatte unter der Überschrift: „Nürnberg 1945 – 1949, alles verleugnet, verdrängt, vergessen?“ die bis heute ungesühnt gebliebenen Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland, Weißrussland oder Serbien betrachtet.

Als Begleitliteratur zur gegenwärtigen Diskussion über die Umtriebe der Geheimdienste bieten sich die hier nachzulesenden Vorträge von Erich Schmidt-Eenbohm und Klaus Körner an. Ähnlich Aktuelles zur „Patriotismus-“ und „Leitkulturdebatte“ (bei Beleuchtung der geschichtlichen Vorbilder) ist bei Wolfgang Wippermann „Feindbild Ost“ und Kurt Pätzold „Über die Produktion von Geschichtsbildern“ zu finden. Ein empfehlenswertes Lesebuch für unsere Zeit.