Überleben als Auftrag

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Eine Erinnerung an Arno Lustiger

Juli-Aug. 2012

Ungeachtet politischer Differenzen war Arno Lustiger antifaschistischen Widerstandskämpfern wie dem Kommunisten Peter Gingold eng verbunden.

Arno Lustiger gehörte – neben anderen Persönlichkeiten – zu den Unterzeichnern der Todesanzeige für Peter Gingold, sprach auf dessen Trauerfeier und gehörte zu den Unterstützern der Ettie-und-Peter-Gingold-Erinnerungsinitiative, für deren Zustandekommen er sich einsetzte.

Bei der Nachricht, dass Arno Lustiger am 15. Mai diesen Jahres im Alter von 88 Jahren gestorben ist, erinnerte ich mich sofort an die eindrückliche Veranstaltung mit ihm im Brechthaus, wo er sich im Februar 2006 in der Reihe »Biografien im Gespräch« befragen ließ. Die Zuhörer erlebten einen gütigen Mann, der scharfsinnig argumentierte und leidenschaftlich daran interessiert war, seine Erfahrungen als polnischer Jude in sieben verschiedenen Konzentrationslagern als »seine bittere Geschichte in Nazideutschland« zu vermitteln. Er war zutiefst erschüttert darüber, wie brutal sich die Wärter als arische Elite aufführten, die davon überzeugt waren, gemeinsam mit den Soldaten an den Fronten Deutschlands Weltherrschaft zu erkämpfen. Genau das erlebte er in den Konzentrationslagern Sosnowitz (Schlesien), Annaberg, Ortmuth, Auschwitz-Blechhammer, Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein.

Er berichtete auch, wie er die unvorstellbaren Strapazen von zwei Todesmärschen nur mit »Widerstandswillen« gegen die letzte Etappe des Faschismus überlebt habe, wo doch Kälte, Hunger und Überanstrengung die Gefangenen vernichten sollten. Von den 4 000, die bei 20 Grad Kälte in Auschwitz aufbrechen mussten, erreichten nur 500 das KZ Groß-Rosen. Vom zweiten Todesmarsch konnte Lustiger flüchten, wurde aber von Volkssturmmännern aufgegriffen, von denen er fast nachsichtig erzählte, dass diese »Kinder« viel zu ungeübt im Erschießen waren. Stunden später retteten ihn Soldaten der US-Army vorm Erschöpfungstod.

Arno Lustiger berichtete uns an jenem Abend im Literaturforum auch, dass ihn die Redewendung, dass sich die Juden »wie Lämmer zur Schlachtbank« hätten führen lassen, jahrzehntelang empört habe. Auch schon während seiner Berufstätigkeit in Frankfurt/Main, wo er tatkräftig die Jüdische Gemeinde wieder aufzubauen half, habe er sich mit antifaschistischem Widerstand beschäftigt, geduldig nach Dokumenten gesucht und unzählige Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Seinen »Ruhestand« hat er dann ausschließlich diesen Studien gewidmet und zuletzt noch ein Buch »Rettungswiderstand« geschrieben, um den mutigen Leistungen der Unzähligen, die Juden geholfen haben oder es wenigstens versuchten, einen Platz in der Erinnerung einzuräumen. Er wollte der Ausrede »man konnte ja gar nichts gegen die Judenverfolgung tun« auf diese Weise widersprechen.

Weil er in den verschiedensten Konzentrationslagern immer wieder Juden begegnet war, die in den Internationalen Brigaden in Spanien gegen die Franco-Diktatur mitgekämpft haben, entschloss er sich, deren Berichten von damals gründlich nachzugehen. In diesem Zusammenhang fragte er auch den Spanienkämpfer Kurt Goldstein, ob der seine Recherchen unterstützen könnte. Als Sekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) begrüßte Kurt die Idee, meinte aber, dass vermieden werden müsse, Juden in den Internationalen Brigaden eine Sonderrolle zuzuschreiben. Das wollte Arno Lustiger auch nicht, doch das große Spanien-Engagement von Juden sollte nicht unerwähnt bleiben, schon wegen der Redensart von den »Lämmern« nicht. Sein Buch »Schalom Libertad – Juden im spanischen Krieg«, das 1989 herauskam, ist ein Standardwerk des Kampfes gegen den spanischen Faschismus geworden.

Unermüdlich hat sich Arno Lustiger in Gesprächen mit Schulklassen und Studenten seinem Vorsatz gewidmet: »Was geschah dem Vergessen zu entreißen«. Das sei er seinem Überleben schuldig.

Am 27. Januar 2005 sagte er im Deutschen Bundestag zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz: »So bin ich in meinem späten Leben zum Schreiber für die Taten geworden. Meine Bücher sind Epitaphe an Stelle der nicht vorhandenen Grabsteine jüdischer Widerstandskämpfer …«

Und er schloss seine Rede: »Die Wege der Erinnerung sind schwierig, aber solange wir leben, sollten wir sie alle in unserem Gedächtnis behalten: die sechs Millionen unserer jüdischen Brüder und Schwestern, davon eine Million in Auschwitz, die ermordet worden sind, die anderen Opfer der Nazis ohne Unterschied ihrer Herkunft, Religion oder des Grundes ihrer Verfolgung, die Retter und die Widerstandskämpfer aller Nationen, die Soldaten der 100. Division, die heute vor 60 Jahren Ausch-witz befreiten und dabei fielen, unter ihnen der sowjetische Moslem Leutnant Gilmudin Baschirow. Wir gedenken mit Dankbarkeit der Soldaten der alliierten Armeen, die bei unserer Befreiung fielen. Ihre Namen und ihr Gedenken seien gesegnet und unvergessen.« Unvergessen soll uns auch unser Freund Arno Lustiger bleiben.