Verheißungen der Biologie

geschrieben von Thomas Willms

5. September 2013

Genetischer Wert als Marktgröße

März-April 2013

George Church/Ed Regis: Regenesis: How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2012, 284 Seiten, 20 Euro

Die »Eugenik« war eine besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitverbreitete Bewegung, die sich zum Ziel setzte Bevölkerungen durch Förderung »guter« und Verhinderung »schlechter« Genträger zu »verbessern«. In vielen Ländern gab es entsprechende Gesetze. In Nazi-Deutschland steigerte sich dies bis zu zahlreichen Zwangssterilisierungen und der Ermordung »lebens-unwerten Lebens« in der Aktion T4. Das Personal dieser Aktion spielte später eine wichtige Rolle beim Aufbau der Vernichtungslager.

Die Bild-Zeitung ist sich auch für nichts zu schade, könnte man meinen. »Leihmutter für irres Experiment gesucht. US-Genforscher will Neandertaler züchten!« titelte sie am 22. Januar. Was sich anhört wie eine Textzeile aus »Clever & Smart« bezieht sich auf eine der tiefgreifenden Entwicklungen des letzten Jahrzehnts, die synthetische Biologie. Sie beschäftigt sich mit dem bewussten und aktiven Umbau von Genen und damit der Veränderung von Lebensformen und der Erschaffung neuer. Dass der Mensch das tut, ist eigentlich nichts Neues: Dackel, Schaf und Maiskolben gäbe es nicht, hätten nicht seit Jahrtausenden Menschen natürlich auftretende Mutationen in ihrem Interesse ausgenutzt. Neu ist, dass das, was Jahrhunderte dauerte, heute an einem Nachmittag geschafft werden soll.

»Klonschaf Dolly« und das erste »Human Genome Project«, die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, waren aber noch äußerst fehleranfällige und vor allem teure Unternehmungen. Das hat sich geändert. In seinem Buch über die »Neuerschaffung von Natur und Menschen« macht mit George Church nun einer der Vorkämpfer der Genetik mobil. Besagte Schlagzeile bezieht sich auf einen Abschnitt dieses Buches. Heißen soll sie folgendes: Man sei heute in der Lage, das Erbgut der Neandertaler aufzuspüren, zu rekonstruieren, in eine lebende Eizelle einzuführen und diese austragen zu lassen. Die bahnbrechenden Erkenntnisse der Paläoanthropologie des letzten Jahrzehnts, nach denen die Neandertaler nicht nur körperlich, sondern vielleicht sogar geistig dem Homo Sapiens überlegen gewesen könnten, nimmt Church stillschweigend auf und erklärt, dass die Menschheit dringend mehr Diversität brauchen könne. Aber »besser« soll sie dabei schon werden. Wer sich wie er mit dem »genetischen Wert« von Menschen beschäftigt, kommt um die Eugenik nicht herum. Zu kritisieren hat er an ihr, dass sie »falsch« gewesen sei, da sie zu einer Verarmung des Genpools geführt habe. Der Genpool ist aus seiner Sicht aber eine operative Größe, auf die aktiv Einfluss zu nehmen – nach welchen Kriterien? – legitim und notwendig sei. Church ist bei alledem kein Spinner, sondern ein in Nobelpreisnähe forschender Genetiker, Forschungsorganisator und Unternehmer. Wie weiland Thomas Edison geht es ihm nicht zuletzt um den »cash value«, den zu erwirtschaftenden Geldwert der Erfindungen. Als wäre René Descartes »mechanisches Leben« auf einmal Wirklichkeit geworden, bearbeitet die synthetische Biologie organisches Material ingenieurstechnisch. Frei nach der Losung »Dem Ingeniör ist nichts zu schwör« arbeiten zahllose Unternehmen (und Studentenulk-Gruppen) bislang hauptsächlich an der Modifikation insbesondere von Einzellern und Mikroorganismen. Die Ziele sind überwältigend: Bakterien, die Benzin ausspucken; Viren, die Krebszellen aufspüren und erledigen; Medikamente, die ganz genau individuellen Bedürfnissen entsprechen usw. usf..

Es verschwimmen die Grenzen zwischen Biologie, Nanotechnologie und Informatik. Außerdem muss dringend Gott korrigiert werden. In einem Parforce-Ritt durch die Naturgeschichte stellt Church mit seinem Co-Autor Ed Regis wichtige Wendepunkte der genetischen Entwicklung dar, beginnend mit der Trennung von toter und lebender Materie. Church und andere halten die meisten Genome für dringend verbesserungsbedürftig, insbesondere für zu umständlich. Was die Natur in zahllosen Irrungen und Wirrungen erschaffen hat, sei viel effizienter organisierbar. Über die verbreitete Angst vor einem Viren-Armageddon kann der Autor nur lachen. Solche Ängste seien normal und ähnelten den Aufständen der Weber bei der Einführung des mechanischen Webstuhles.

Für selbstverständlich hält der Autor, dass all die-se Entwicklungen sich in einer Marktwirtschaft durchsetzen werden und zum Wohle aller zum Einsatz kommen. Wer die bisherigen Eingriffe der Gen- und Handelskonzerne in die Tier- und Pflanzenwelt betrachtet, muss da allerdings Zweifel bekommen. Sie haben in ziemlich kurzer Zeit nicht zu einem Mehr an Diversität geführt, sondern zu ihrem Zusammenbruch. Von tausenden von Kartoffel-, Apfel- und Tomatensorten kommen nur noch eine Handvoll in die Supermärkte und zwar überall dieselben.

Das hybridisierte Saatgut macht den Gärtner, der sich nicht wehrt, zudem abhängig von den Lieferungen ganz weniger Konzerne. Von der Exzentrik des Autors und seinen überbordenden und überspannten Ausführungen soll man sich nicht täuschen lassen. Hier tritt einer das Gaspedal der Forschung durch und zwar ohne Rücksicht auf eine Warnung, die sich auch in seinem Buch findet: »Das was man erschaffen kann, versteht man darum nicht unbedingt.«