Vor einem Neuanfang?

geschrieben von Reiner Bernstein

5. September 2013

Von Reiner Bernstein

Juli-Aug. 2010

Dr. Reiner Bernstein ist Vorsitzender der Bürger- »Initiative Stolpersteine für München e.V.«

In die Absage der Stadt München, Stolpersteine verlegen zu dürfen, ist Bewegung gekommen. Nach dem einstimmigen Votum der »Grünen« Ende 2009 hat jetzt auch die Mehrheit der SPD-Mandatsträger die Ablehnung vom Juni 2004 kritisiert. Diese Entscheidung war überfällig. Denn die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig erinnern in über 230 deutschen Städten und Ortschaften sowie in Österreich, Italien, in den Niederlanden, in Belgien, Tschechien und Polen an die Opfer des NS-Terrorregimes – nur nicht in der ehemaligen »Hauptstadt der Bewegung«. Wenn sich der kommunale Immobilismus dem Ende zu nähern scheint, dann ist es dem Nachdenken oder gar der Einsicht zuzuschreiben, dass die Entscheidung des Stadtrates von damals auf Dauer nicht durchzuhalten ist, allein schon wegen des negativen öffentlichen Echos im In- und Ausland.

Die Begründungen für die Ablehnung haben der Nachprüfung nicht standgehalten, so dass immer neue Argumente nachgeschoben werden mussten, um das Verbot zu rechtfertigen. Zu ihnen gehörte die Behauptung, dass die Verlegung von Stolpersteinen einer »Inflationierung des Gedenkens« gleichkomme. Ein anderes Mal hieß es, dass die zehnmal zehn Zentimeter großen Messingplatten auf eine »selektive« Ehrung der Juden, der Sinti und Roma, politisch und der religiös Verfolgen, der Homosexuellen und der »Euthanasie«-Opfer hinauslaufen würden, die in Deutschland oder nach ihrer Deportation in Osteuropa ermordet wurden.

Bei all den offiziellen Begründungen wurde die Logik der individuellen Erinnerung nicht verstanden: Es geht nicht um große Gedenktafeln und Mahnmale, auf denen das einzelne Opfer nicht mehr zu erkennen ist. Auch das Argument, dass auf den Steinen herumgetrampelt werden könne, so dass die Deportierten und Ermordeten noch einmal geschändet würden, fällt in sich zusammen. Denn ansonsten müsste auch der Besuch von ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern, in denen auf jedem Meter Menschen zu Tode gequält wurden, und von Friedhöfen verboten werden. In den wenigen Fällen, wo Stolpersteine beschädigt oder gar mutwillig beschädigt worden sind, haben Bürgerinitiativen für ihre Neuverlegung gesorgt.

Überlebende Angehörige in aller Welt verwahren sich dagegen, dass die Stadt München ihnen das Andenken an ihre Eltern und Verwandten durch Stolpersteine verwehren will. Die Zeitzeugen von damals werden den nachwachsenden Generationen bald nicht mehr zur Verfügung stehen. Gerade die zahlreichen Detailuntersuchungen über die Beteiligung der »Wehrmacht«, der Bürokratie, der Wissenschaft und der »Heimatfront« an dem Menschheitsverbrechen gebieten, dass das Andenken kein staatliches oder kommunales Monopol bleiben darf. Die öffentliche Hand ist mit den Kosten für die Verlegung nicht belastet, weil Paten die Vergangenheit nicht blind vergehen lassen wollen – auch als Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft.

Die Bürger-»Initiative Stolpersteine für München« hat mit Unterstützung von Hauseigentümern und Wohngemeinschaften auf privatem Grund sowie in der dem kommunalen Zugriff entzogenen Hochschule für Musik und Theater mehr als vierzig Stolpersteine verlegen lassen. Im Kunstpavillon wird mit der Mahnung »Gedemütigt, entrechtet, Flucht in den Tod« der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Antonie Pfülf gedacht, die 1933 aus politischer Verzweiflung den Freitod suchte, sowie des Sozialdemokraten Hermann Frieb und des katholischen Jugendleiters Walter Klingenbeck, die beide 1942 hingerichtet wurden. Außerdem wurden Galerien und andere Veranstaltungsorte für den Anspruch auf individuelle Erinnerung mit Präsentationen, Podiumsdiskussionen und Lesungen gewonnen.

Allein in Hamburg hat Gunter Demnig im April dieses Jahres den 3000. Stolperstein verlegt. Der Film »Stolpersteine« von Dörte Franke ist wegen des großen öffentlichen Interesses in München mehrfach gezeigt worden. Mehr als 150 Stolpersteine privater Spender warten auf ihre Verlegung an dem Ort, wo sie hingehören: auf dem Bürgersteig vor jenen Gebäuden, aus denen die Opfer herausgerissen, deportiert und in den Tod geschickt wurden. Denn jedes Haus hat eine Geschichte. »Das Geheimnis der Erinnerung ist die Nähe.«