Vorsicht: Verfassungsfeind!

geschrieben von Hans Canjé

11. September 2013

Grundrechte-Report zur Geheimdienst- und Behördenwillkür

»Wo bleibt das Positive?« – fragt Erich Kästner, dessen Kinderbuch »Das doppelte Lottchen« bekannter ist als die Tatsache, dass die Faschisten am 9. Mai 1933 auf dem Platz vor der heutigen Humboldt-Universität auch seine Bücher als »volksfeindlich« und »entartet« auf den Scheiterhaufen warfen. »Wo bleibt das Positive?« – eine Frage, die man auch gerne stellen möchte, wenn man den 17. »Grundrechte-Report 2013 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland« zur Hand nimmt. Die Herausgeber dieses Projekts, diverse Bürgerrechtsorganisationen, stellen in ihrem Vorwort klar, dass sie für den aktuellen Berichtszeitraum 2012 ihren Befund über das Treiben der Verfassungsschutzämter im Vorjahreszeitraum – »auf dem rechten bestenfalls Auge blind, auf dem linken Auge hyperaktiv bis wahnhaft« erneut stellen – und »er hat sich sogar verschlimmert«.

Das Urteil klingt hart und wird ganz sicher keinerlei Gnade finden vor den Augen des Präsidenten des Bundesamtes (BfV) Hans Georg Maaßen und seines obersten Dienstherrn, Bundesinnenminister Friedrich (CSU). Das skandalträchtige Verhalten, besser Nichtverhalten, der diversen Sicherheitsbehörden im Fall des jahrelangen Mordfeldzugs des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU), steht im Report an der Spitze. (Heiner Busch: »Betriebsunfall NSU? Interpretationen und übliche Lösungen«). Die 45 Autoren, Juristen, Journalisten, Aktivisten in Bürgerrechtsorganisationen, kritische und wachsame Zeitgenossen allesamt, beleuchten die Alltagsumsetzung des Grundgesetzes von Artikel 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« über Artikel 2: »Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«, Artikel 3: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« bis hin zum Artikel 38: »Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes«

Wer die bis dahin 200 Seiten über den schandhaften Umgang der Behörden mit Asylbewerbern, mit Hartz IV-Empfängern, der Polizei mit »Andersaussehenden« und Demonstranten, die von ihrem im Artikel 8 festgeschriebenen »Recht, sich zu versammeln« Gebrauch machen, über die permanente Bespitzelung »extremistischer oder extremistisch beeinflusster« Organisationen durch die »Hüter der Verfassung«, die mit ihren, gezielt auf Abschreckung getrimmten Berichten über antifaschistische Organisationen mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) an der Spitze als »bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus« (Bayerischer Verfassungsschutzbericht 2012) denunzieren, wer also all das und einiges mehr über die hier verdienstvoll aufgelistete und nachdenklich stimmende Kluft zwischen Verfassungstext und Verfassungswírklichkeit gelesen hat, der wird dem Einleitungstext der Herausgeber des Report nicht widersprechen können: »Der Verfassungsschutz ist gründlich diskreditiert. Die Verfassungsschutzberichte sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen; sie gehören geschreddert.«

Natürlich hat laut Verfassung jede Bürgerin und jeder Bürger das Recht, das auch laut zu sagen. Nur: er muss aufpassen, dass er das nicht in der Nähe einer »Gefahrenquelle« für den Bestand der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« (fdGO), also einem der 27 Bundestagsabgeordneten der Linksfraktion sagt, die vom BfV beobachtet werden. Er gerät in Gefahr, selbst als Verfassungsfeind »aufgeklärt« zu werden. Denn, so zitiert Christoph Gusy, Professor für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsschutz, in seinem Beitrag über die Bespitzelung der Abgeordneten der Links-Fraktion die entsprechenden Regeln: »… eine Person, die nicht merkt, wofür sie missbraucht wird, kann für den Bestand der fdGO genau so gefährlich sein, wie der Überzeugungstäter.«

Den Herausgebern, den Autoren und dem Verlag ist zu danken für diesen »authentischen Verfassungsschutzbericht«, der erschienen ist bevor wir, und vor allem die Kanzlerin, überrascht wurden von dem, was BFV und BND und MAD und NSA und weitere Dienste alles getan haben, »um Schaden (…) von unsrer Bevölkerung« abzuwehren.