Würde und Widerstand
11. September 2013
Der jüdische Beitrag zum Sieg über den Faschismus – Von Kamil Majchrzak
Die Geschichte des jüdischen Widerstands ist auf der Landkarte der europäischen Historiographie immer noch inselhaft und weitgehend unerforscht. Dies führt dazu, dass selbst Antifaschisten nicht verstehen, dass angesichts des systematischen Völkermords an den Juden der bewaffnete jüdische Widerstand unter komplizierten Bedingungen stattfand und besondere Formen annehmen musste. Das Ausmaß an Tapferkeit und Verzweiflung, das er erforderte, wird oft bagatellisiert. Häufig wird auch vergessen, dass viele Juden nicht ohne Widerstände in bestehende Partisaneneinheiten aufgenommen wurden. Der polnische Untergrund der Londoner Exilregierung und die später aus der Sowjetunion in den Iran evakuierte Armee von General Władysław Anders nahmen sie nur wiederwillig in ihre Reihen auf. Auf Schwierigkeiten trafen auch polnische Juden, die sich sowjetischen Partisanen anschließen wollten. Aufgrund der antirussischen Politik Polens vor dem Krieg begegnete die Sowjetführung Polen grundsätzlich mit Misstrauen. Polnische Juden wurden noch zusätzlich mit Ressentiments und Stereotypen bezüglich ihrer Tapferkeit konfrontiert.
In Europa wurden Juden lange vor der Deportation enteignet, aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen und ihrer Bürgerrechte beraubt. Obwohl die Nazis in den besetzten Ländern Europas teilweise unterschiedliche Politiken verfolgten, verband sie seit Sommer/Herbst 1941 immer ein Ziel: die vollständige Extermination der Juden. Charakteristisch war dabei, dass der Ermordung europäischer Juden die minuziös geplante ökonomische Ausplünderung voranging. Aus dem »Finanz-Bericht über die Vernichtung der Juden in Polen«, den Odilo Globocnik am 15.12.1943 verfasste, geht hervor, dass allein durch die Massenmorde der sogenannten »Aktion Reinhardt«, bei der nahezu 90 Prozent der polnischen Juden ermordet wurden, mehr als 178 Millionen Reichsmark »eingenommen« wurden.
Der Osten Europas, insbesondere das von den Nazis besetzte Polen, wurde nicht zufällig als Ort der Vernichtung ausgewählt. In Polen lebten die meisten europäischen Juden, und obwohl die Polen selbst nicht zur sofortigen Vernichtung bestimmt waren, unterlagen sie dem schärfsten Terror-Regime aller besetzten Länder. Die Konzentration der Juden ging mit einer instrumentellen Logik der Vernichtung und einer Art mentalen Kollaboration einher: sie betreffe ja »nur« die jüdischen Nachbarn und nicht Polen als solche, außerdem könne man sich an dem Völkermord bereichern. Die in Ghettos konzentrierten Juden wurden für jeden Akt des Widerstands als Kollektiv bestraft. Auch deshalb entstand frühzeitig unter jüngeren Juden die Diskussion, ob Juden im Ghetto verteidigt werden sollten, oder der Kampf eher außerhalb der Ghettos stattfinden müsse. Doch in beiden Fällen fehlte es an Waffen. Ein weiterer Umstand wird dabei oft vergessen: der weitverbreitete Antisemitismus in Polen. An polnischen Universitäten wurde die Einrichtung von Ghettos bereits in den 1930er Jahren gefordert, lange vor dem Einmarsch der Einsatzgruppen des SD. Pogrome gehörten nach dem Tod von Marschall Józef Piłsudski zur Tagesordnung und die von ihm begründete Sanacja-Regierung tendierte seit Mitte der 1930er Jahre immer stärker zur faschistischen Ideologie der Endecja von Roman Dmowski, einem Erzfeind Piłsudskis. Die brutale Ermordung von Juden in Jedwabne im Juli 1941 durch ihre polnischen Nachbarn, ohne Zutun der Deutschen, sowie die mittelbare Beteiligung vieler Polen an dem Raub jüdischen Eigentums durch die Nazis, das sie verbilligt erwarben, sind Ausdruck jener kollaborativen Haltung. Die polnischen Faschisten der Endecja, insbesondere ihre Abspaltung Nationalradikale Lager (poln.: Obóz Narodowo-Radykalny, ONR) und ihre Partisanen-Einheiten NSZ, die heute als antikommunistische Helden vom polnischen Parlament geehrt werden, bedauerten dabei in ihrem Untergrund-Blatt Walka vom 28.07.1943, dass die »Endlösung« vermutlich noch nicht vollzogen sei und dies eine Gefahr für die Nachkriegszeit darstelle. Nach Angaben von Prof. Feliks Tych übernahmen ca. 700.000 Polen enteignetes jüdisches Eigentum oder Mobiliar.
Diese Ausgangslage setzte den Juden enge Grenzen für die Möglichkeit des Überlebens außerhalb der Ghettos, was entscheidenden Einfluss auf die Form des bewaffneten jüdischen Widerstandes hatte. Welche Rolle konnte der bewaffnete Widerstand z.B. der Bielski-Brüder Tuvia, Zus, Asael und Archik haben? Kämpften sie, oder retteten sie in ihren Waldlagern »nur Menschen«? Während polnische oder sowjetische Partisanen auf Rückhalt in der Bevölkerung setzen konnten, mussten Juden nicht nur vor den Deutschen, sondern auch vor Polen, Ukrainern oder Litauern auf der Hut sein.
Ritualisierungen und Auslassungen
In seinem Film »Der Passagier – Welcome to Germany« setzte sich Thomas Brasch, Regisseur und Kind jüdischer Flüchtlinge, mit der Erinnerung an den Holocaust und dem Maß an individueller Gestaltungsfreiheit der Juden auseinander. Darin lehnte er eine »Holocaust-Sentimentalität« ab und forderte ein Umdenken in der Erinnerungskultur. Brasch hatte Recht, denn die Unfassbarkeit des dennoch realisierten planmäßigen Völkermords der deutschen Faschisten an den europäischen Juden führte dazu, dass der vielfältige Widerstand jüdischer Kombattanten, Soldaten, Partisanen und Aufständischen in den Hintergrund gerückt wurde. Die ritualisierte Erinnerungskultur an den Holocaust ermöglichte dabei in Deutschland eine Art Exkulpation der Täter und Kollaborateure, die den Opfern eine Mitschuld an den Verbrechen zuwiesen: sie hätten sich ja wehren können – oder müssen. Dadurch wurde jedoch der tatsächlich geleistete und mögliche Widerstand ausgeblendet.
Erste Überlegungen zum bewaffneten Widerstand entstanden im Dezember 1941 im Kreis um Abe Kowner aus der Jugendorganisation Haszomer Hacair, der lokale Untergrundgruppen zur »Vereinigten Kampf-Organisation« (jiddisch: »Farajnigte Partizaner Organizacje«, FPO) bei Vilnius zusammenschloss. Darauf folgte im Sommer 1942 die Gründung der »Jüdischen Kampf-Organisation« (ŻOB) in Warschau, der unterschiedliche linke Gruppen und Parteien angehörten.
Insgesamt kämpften mehr als 1,5 Millionen Juden in den Armeen der Anti-Hitler-Koalition. Mehr als 200.000 Juden kämpften in den Reihen regulärer polnischer Verbände an der Seite der Sowjetunion und bei den Alliierten im Westen. In Partisanenverbänden auf dem Gebiet Weißrussland kämpften ca. 8.000, in der Ukraine 3.000, in Litauen 2.000 und in Wolhynien ca. 1.000 Juden. Viele von ihnen verheimlichten jedoch ihre Identität. Der Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943 gehörte zu den ersten bewaffneten Erhebungen im urbanen Raum des besetzten Europas überhaupt. Jene Partisanen des ŻOB, die die Liquidation des Warschauer Ghettos nach den Kämpfen in Verstecken überlebt hatten, nahmen dann im August 1944 am Warschauer Aufstand teil.
Hervorzuheben ist, dass innerhalb der kommunistischen »Armia Ludowa« ca. neun von insgesamt 38 Einheiten der Partisanen als jüdische Abteilungen galten. Darunter befanden sich auch überlebende Kämpfer des Aufstandes im Vernichtungslager Sobibór oder dem Warschauer Aufstand. Einige der Kämpfer aus der Anielewicz-Einheit unter dem Kommando von Mordechaj Growas und Ignacy Podolski wurden im Frühjahr 1944 von polnischen Faschisten der NSZ ermordet.
Die Aktionen der jüdischen Kombattanten waren vielfältig: die spektakuläre Befreiung eines Auschwitz-Transportes am 20. April 1943 durch jüdische Partisanen in Belgien, die Teilnahme an der Befreiung von Castres und Mazamet in den Pyrenäen 1944, die Verzögerung von Rommels Vorstoß auf Tobruk durch das Fort Bir Hakeim, mit seiner größtenteils jüdischen Besatzung aus Palästina oder die legendäre Aktion der Widerstandsgruppe um Herbert Baum am 18. Mai 1942 gegen die antikommunistische Propagandaausstellung »Das Sowjetparadies« im Berliner Lustgarten. Jüdische Kombattanten kämpften an nahezu allen Fronten und nahmen an den wichtigsten Operationen der Anti-Hitler-Koalition teil, ob bei der Verteidigung von Leningrad, der Schlacht bei Stalingrad, am Kursker Bogen, schließlich als Soldaten der 1. Polnischen Armee auch beim Sturm auf Berlin 1945 und der Zerschlagung der letzten faschistischen Bastion Europas. Nahezu ein Viertel der sowjetischen Streitkräfte bestand aus jüdischen Kämpfern. Man vergisst dies wohl nur, weil sie keine eigenständigen Uniformen trugen, sondern immer jene der jeweiligen Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition.
Juden spielten auch eine nicht zu unterschätzende Rolle im antifaschistischen Nachrichtendienst. Besondere Verdienste kommen dabei dem polnischen Juden Leopold Trepper von der »Roten Kapelle« zu, der die Sowjetunion vor der bevorstehenden Kaukasus-Offensive der Wehrmacht warnte, wodurch der Widerstand in der Schlacht von Stalingrad vorbereitet werden konnte. Eine ebenso wichtige Rolle spielten auch die sogenannten »Ritchie Boys«, deren Kern aus deutschen Juden bestand, unter ihnen der spätere DDR-Schriftsteller Stefan Heym, die seit ihrer Landung in der Normandie 1944 erfolgreich an der »Wehrkraftzersetzung« der deutschen Faschisten arbeiteten.
Die polnisch-jüdische Partisanin Janina Duda, die als Gast der Berliner VVN-BdA am Tag der Mahnung 2012 teilnahm, erinnerte uns daran, dass die Entscheidung zur Aufnahme des bewaffneten Widerstandes nie gleichbedeutend war mit einer Entscheidung fürs Überleben, einer Entscheidung über die Rettung vor dem Holocaust.