Trommelfeuer auf der Krim

geschrieben von Thomas Willms

13. Mai 2014

Eine Analyse eines der ersten Kriege der Neuzeit

 

Orlando Figes, britischer Professor für russische Geschichte, legte 2010 mit »Crimea« ein Buch vor, dessen deutsche Fassung sicher nicht zufällig gerade neu herausgegeben wird. Es enthält eine umfassende Schilderung des Krimkrieges 1853 – 1856, des größten europäischen Krieges des 19. Jahrhunderts. Figes überwindet die Tradition der britisch dominierten Geschichtsschreibung zum Thema, indem er außer britischen und französischen auch osmanische und vor allem russische Quellen heranzieht und dabei auch gewöhnliche Soldaten zu Wort kommen lässt.

Orlando Figes, Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug, 753 Seiten, 18,99 Euro

Orlando Figes, Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug, 753 Seiten, 18,99 Euro

Man kann gar nicht anders, als die Vorgeschichte dieses Konfliktes, seinen furchtbaren Verlauf und die weitreichenden Folgen vor dem Hintergrund des aktuellen Konfliktes in der Ukraine zu lesen.

Der hinter den Weltkriegen praktisch verschwundene Krimkrieg lag zeitlich auf halbem Weg zwischen den napoleonischen Kriegen, die insbesondere die Kommandierenden oft noch selbst erlebt hatten und dem Ersten Weltkrieg. Politisch, technologisch, organisatorisch, aber auch ideologisch gehört er aber bereits eher in die moderne Neuzeit. Zusammen mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg gilt er als der erste moderne Krieg. Seine Ursache lag im tiefen Konflikt zwischen dem russischen Expansionsstreben gegenüber einem schwachen Nachbarn (dem Osmanischen Reich) und dem gleichzeitigen Dominanzstreben der westlichen Großmächte Großbritannien und Frankreich. Seine Schauplätze waren der Kaukasus, die Krim und Moldawien. Auf einen anfangs erfolgreichen russischen Angriff auf das Donau-Delta reagierten die Westmächte mit der Entsendung eines großen Expeditionskorps auf die Krim, um Sevastopol und die russische Schwarzmeerflotte auszuschalten. Im Zentrum der Kämpfe stand die fast einjährige Belagerung Sevastopols.

In deren Verlauf zeigte sich die Überlegenheit der sich entwickelnden industriellen Basis der Westmächte mit den einhergehenden bürokratischen Organisationsweisen gegenüber dem System der auf Leibeigenschaft beruhenden russischen Ökonomie.

Die besonderen Gräuel dieses Konfliktes mit seinen geschätzten 800.000 militärischen und ungezählten zivilen Toten ergaben sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass diejenigen die ihn führten, seine Wesenszüge zunächst nicht verstanden. Vor Sevastopol kam es deshalb zu Angriffen mit Säbel und Lanze, für die es dank der gerade eingeführten Infanteriegewehre mit gezogenem Lauf keine Grundlage mehr gab. Ein großer Teil der kommandierenden Generäle auf beiden Seiten kam ums Leben, da man noch meinte, die Truppen selbst anführen zu müssen. Zu den seit langem bekannten Kanonenkugeln traten Explosivgeschosse hinzu. Eine bis dahin nicht vorstellbar große Anzahl von Geschützen bombardierte die Stadt mit bis zu 50.000 Granaten täglich. Sevastopol sah aus wie von einem Erdbeben getroffen. Apokalyptische Ausmaße, von Tolstoj beschrieben, nahm der Fall der Stadt an. Die überlebende Bevölkerung und der Rest der russischen Armee zogen sich am 8. September 1855 nachts über eine Pontonbrücke zurück, während die Nachhut die Trümmer in Brand setzte und dabei Tausende von Verwundeten zurückließ. Zar Nikolaus I., dem Figes die Hauptschuld am Krieg zumisst, brach voller Schuldgefühle zusammen und starb. Obwohl strategisch keineswegs entschieden, schreckten beide Seiten vor einer weiteren Entfesselung und Ausdehung des Konfliktes zurück und schlossen Frieden. Die konkreten Ergebnisse des Krieges waren angesichts der aufgewendeten Mittel gering. Russland verlor ein kleines Stück Gebiet in Moldawien und bis auf weiteres das Recht auf eine Flotte im Schwarzen Meer.

Schwerwiegend waren die politischen Folgen. Die russische Seite reagierte mit Ansätzen zur Modernisierung ihrer Gesellschaft, insbesondere der Aufhebung der Leibeigenschaft. Andererseits kam es bereits während der Kämpfe, vor allem aber danach, zu starken Bevölkerungsverschiebungen, teils erzwungen durch Repression und Vertreibung, teils durch Flucht und Hoffnung auf mehr Sicherheit und Wohlstand. Der Krieg führte u.a. dazu, dass Bevölkerungen und Individuen zunehmend anhand ethnischer, sprachlicher und religiöser Kriterien betrachtet und behandelt wurden. Im Schwarzmeerbogen wurden Wohngebiete von Bulgaren, Griechen, Armeniern, Türken, Russen, Tataren und weiteren Ethnien vereinheitlicht, gereinigt oder beseitigt. Die aristokratische Klassensolidarität der Dynastien, 1815 auf dem Wiener Kongress feierlich erklärt, war endgültig zerbrochen. Die Gewinnung der öffentlichen Meinung und die Mobilisierung der Massen für oder gegen eine Sache wurde fortan zum wichtigen Moment der Kriegführung. Das Konzept Nationalismus, im Krieg bereits gefährlich in Anschlag gebracht, setzte sich insbesondere auf dem Balkan durch. Und damit war der Anlass für den Weltkrieg nicht mehr fern.