Viele Anlässe zum Gedenken

geschrieben von Thomas Altmeyer

14. Mai 2014

Die Widerstandskämpferin Johanna Kirchner (1889-1944)

 

»Ein Hauptanliegen meiner Mutter war: SOLIDARITÄT. Ihr hervorstechender Charakterzug war, anderen Menschen zu helfen.« So beschreibt Lotte Schmidt die Widerstandskämpferin Johanna Kirchner. Kirchner, vor 125 Jahren am 24. April 1889 geboren, engagiert sich bereits früh in der Politik. Die Tochter aus einer ursozialdemokratischen Familie – die Großeltern waren Mitgründer der Frankfurter SPD – gehört 1919 zu den Mitbegründerinnen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Frankfurt am Main. Sie arbeitete in der Geschäftsstelle der AWO und vertrat diese auf Kongressen und auf SPD-Parteiveranstaltungen. 1923 initiiert sie die »Ruhrkinderaktion«: Kinder von notleidenden Familien aus dem Ruhrgebiet werden von Frankfurter Arbeiterfamilien zur Erholung aufgenommen – mehr als 600 Familien beteiligen sich.

Foto fu¦êr Seite 19

Nach ihrer Scheidung von Karl Kirchner 1926 wird Johanna Kirchner – den Nachnamen behält sie zeitlebens, trotz neuer Ehe, bei – hauptamtliche Sekretärin im Frankfurter Parteibüro der SPD. Sie setzt sich für Frauenrechte ein und bekämpfte früh den Nationalsozialismus.

Als die SA am 2. Mai 1933 das Frankfurter Gewerkschaftshaus und die SPD-Geschäftstelle stürmt, gelingt es ihr noch, die Mitgliederkartei zu retten. Im Juni 1933 reist sie nach Genf zur Internationalen Arbeitskonferenz. Dort will sie beim ehemaligen hessischen Innenminister Wilhelm Leuschner um Unterstützung für den inhaftierten Carlo Mierendorff bitten. Nun wird die Gestapo auf ihre Aktivitäten aufmerksam.

Kirchner wird rechtzeitig vor der ihr drohenden Verhaftung gewarnt. Ihr gelingt die Flucht ins Saargebiet, dass seinerzeit vom Völkerbund verwaltet wurde. In Saarbrücken kann Kirchner in einem Café der ebenfalls geflohenen Sozialdemokratin Marie Juchacz arbeiten. Das Café gilt als zentrale Anlaufstelle für politische Flüchtlinge. Kirchner wertet nun Berichte von Flüchtlingen und Kurieren aus und leitet diese an den Vorstand der SOPADE in Prag weiter. Sie erhält Zeitschriften und anderes in Deutschland verbotenes Material, das zurück ins »Reich« geschmuggelt wird. Auch ihre Töchter beteiligen sich beim Transport illegaler Schriften und Nachrichten unter den Genossinnen. Kirchner engagiert sich mit anderen Emigrierten auch gegen die Rückkehr des Saargebietes ins »Deutsche Reich«. Sie scheitern: Über 90 Prozent der Wahlberechtigten entscheiden sich für den Anschluss. Ihre politische Arbeit setzt sie danach vom lothringischen Forbach fort – jenem Ort, wo im Frühjahr 2014 der Vize-Präsident des Front National Florian Philippot im ersten Wahlgang zur Bürgermeisterwahl vorne lag und erst in der zweiten vom bisherigen Amtsinhaber gestoppt werden konnte.

In Forbach richtet Kirchner mit Emil Kirschmann und Max Braun, dem Vorsitzenden der Saar-SPD, die »Beratungsstelle für Saarflüchtlinge« ein. Hilfe für die Emigranten, etwa bei der Suche nach Ausreisemöglichkeiten, Unterkünften und Arbeitsstellen oder bei Passfragen waren ein Teil ihrer Arbeit. Ein anderer bestand im Sammeln von Nachrichten aus dem Reich, die Informationsweitergabe an Widerstandsgruppen, der Versand »illegaler Schriften« vor allem ins Rhein-Main-Gebiet, wie z.B. die aus Prag kommende »Sozialistische Aktion«.

Bemerkenswert ist, dass die von Sozialdemokraten getragene Beratungsstelle die Zusammenarbeit mit kommunistischen Nazi-Gegnern nicht scheut. Kirchner arbeitet hier u.a. eng mit ihrer langjährigen Freundin aus Frankfurter Tagen, der Kommunistin Lore Wolf, zusammen. Wolfgang Abendroth zufolge verwirklichten beide damit »die Einheit der Arbeiterbewegung in der antifaschistischen Arbeit«.

1936 schließen die französischen Behörden diese Einrichtung. Johanna Kirchner gründet eine neue Beratungsstelle. 1937 wird sie aus Deutschland ausgebürgert. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges muss Kirchner Forbach verlassen. Wie viele Emigranten wird sie nach dem deutschen Angriff auf Frankreich interniert. Sie kommt ins Lager Gurs, kann aber fliehen. Sie schafft es bis nach Avignon und taucht in einem Kloster unter. Dort wird sie im Juni 1942 von der französischen Geheimpolizei festgenommen und über Paris an das »Dritte Reich« ausgeliefert. Es kommt zum Prozess vor dem Volksgerichtshof – zehn Jahre Zuchthaus lautet das Urteil. Kirchner kommt ins Zuchthaus Cottbus. Im März 1944 wird das Urteil vom Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, als zu milde kassiert. Im erneuten Prozess wird sie am 21. April 1944 zum Tode verurteilt und wenige Wochen später am 9. Juni in Plötzensee hingerichtet. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie: »Trauert nicht um mich, Ihr werdet glücklichere Zeiten erleben«.

Die Stadt Frankfurt erinnert seit 1992 mit einer Gedenktafel an der Paulskirche an Johanna Kirchner. Sie ehrte darüber hinaus zwischen 1991 und 1995 Menschen, die gegen den Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben, mit der Johanna-Kirchner-Medaille. Ihr Geburtstag vor 125 Jahren und ihr Todestag vor 70 Jahren sind zwei mögliche Anlässe, sich an Kirchners solidarisches und widerständiges Wirken zu erinnern.