Weder Lawine noch Freibrief

geschrieben von P.C. Walther

23. September 2014

Zur Debatte um Antisemitismus auf »Deutschlands Straßen«

 

Der Gaza-Krieg hat die Gemüter erregt. Das ist nicht verwunderlich bei täglichen Bildern von Zerstörungen und den Meldungen über Tote und Verletzte. Holger Schmale gab in der »Frankfurter Rundschau« eine treffende Zustandsbeschreibung: »Wir sind seit Wochen Zeugen, wie die israelische Armee mit ihren Raketen, Granaten und Bomben Gaza in Schutt und Asche legt. Wir sind Zeugen von Kriegsverbrechen, denn die Israelis wie die Kämpfer der Hamas nehmen keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, weder auf ihr Leben noch auf die Infrastruktur, die ihr Leben erst ermöglicht. Dass die Hamas so agiert – mit weitaus geringerer Wirkung – ist nicht sehr überraschend. Dass aber Israel so gnadenlos zuschlägt, ist ebenso entsetzlich wie verstörend.«

Erschütterung und Empörung über die Geschehnisse zeitigten auch hierzulande politische Folgen. Vielerorts kam es zu Kundgebungen und Demonstrationen unterschiedlichen Charakters. Die einen wandten sich gegen die Bombardierungen der Menschen im Gaza-Streifen, die anderen primär gegen den Raketenbeschuss auf Orte und Menschen in Israel. Als Drittes wandten sich schließlich viele gegen die Kriegshandlungen beider Seiten. Sie forderten von beiden Seiten den sofortigen Stopp aller kriegerischen Handlungen, um politische Lösungen zu ermöglichen, zu denen natürlich beiderseits Bereitschaft bestehen muss.

Zusätzlich für Erregung sorgten die auf einigen Kundgebungen oder in zeitlichem Zusammenhang damit auch anderenorts auftretenden antisemitischen Ausfälle, Übergriffe und Anschläge auf jüdische Menschen und Einrichtungen. Einige sahen darin eine »Welle von antisemitischem Hass und Gewalt auf Deutschlands Straßen«.

Wolfgang Benz, einer der renommiertesten Antisemitismus-Experten hierzulande, stellte klar, dass von einer solchen »Lawine des Antisemitismus« keine Rede sein könne; hier werde übertrieben. Erheblich schlechter geworden sei allerdings die Stimmung gegenüber dem Staate Israel. Dessen Politik stoße zunehmend auf Kritik. Das jedoch, betonte Benz, »ist kein Antisemitismus«.

Harte Kritik an Israels Kriegspolitik kam u.a. auch von UN-Generalsekretär Ban Ko Moon, der die Bombardierungen als »grobe Verletzung des humanitären Völkerrechts« bezeichnete. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius erklärte, das Recht Israels auf Sicherheit »rechtfertigt nicht, dass man Kinder tötet und Zivilsten massakriert«. Für den israelischen Völkerrechtler Eyal Benvenisti ist der Gaza-Krieg »eine humanitäre und eine politische Katastrophe«.

Dass die täglich Toten und Verletzten, die Zerstörungen von Häusern und lebenswichtigen Einrichtungen bei Menschen, deren Landsleute oder gar Angehörige davon betroffen sind, Emotionen auslösen, sollte zumindest Verständnis finden, auch wenn daraufhin folgende Aussagen, sobald sie zu Hass-Parolen und Gewaltaufrufen führen, nicht zu billigen sind.

Zweifellos äußerte sich auf einigen Kundgebungen – und mehr noch im Internet – unverblümter Antisemitismus. Und es ist auch zu Angriffen auf jüdische Menschen und Einrichtungen gekommen. Dem muss entschieden entgegengetreten werden. Das ist auch geschehen. Das Schlimme ist, dass Israels Regierung mit ihrer Politik den Antisemitismus noch verstärkt. Die Bomben-Politik erleichterte es Antisemiten, den Menschen zuzurufen: Seht, »die Juden« bringen Frauen und Kinder um.

Das Widerwärtige und Nichthinnehmbare an dieser Darstellung ist, »die Juden« für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich zu machen. Hier kann von einer berechtigten Kritik an Israels Bomben-Politik keine Rede sein; das ist blanker Antisemitismus. Kritik an der Politik Israels verliert jede Berechtigung, wo zu Hass und Gewalt gegen Juden aufgerufen wird.

Völlig daneben gehen allerdings auch Darstellungen wie die des israelischen Botschafters in Berlin, Yakov Hadas-Handelsman, wonach die Verfolgung von Juden hier und jetzt »in den Straßen Berlins« so sei, »als ob wir uns im Jahr 1938 befänden«. Das ist auf die heutigen Verhältnisse bezogen nicht nur eine maßlose Übertreibung, die schlimmstenfalls geeignet ist, jüdischen Menschen zusätzlich Angst zu machen. Es ist vor allem eine unverantwortliche Bagatellisierung der faschistischen Gewalt, die zu dieser Zeit in Deutschland herrschte. Einen solch schiefen Vergleich sollte ein Botschafter auch dann unterlassen, wenn er alles versuchen will, Kritik an der Politik seiner Regierung zum Verstummen zu bringen.

Ein Beispiel, das vielmehr Schule machen sollte, lieferten in Hannover die Jüdische Gemeinde und die Palästinensische Gemeinde. In einer »Gemeinsamen Erklärung zur anhaltenden Antisemitismusdebatte« plädierten sie für »offene Kritik und offene Meinungsäußerung« bei gegenseitigem Respekt und Anstand. So gelinge es, »nicht jede Kritik an dem Vorgehen Israels als antisemitisch motiviert einzustufen und nicht jede Solidaritätsbekundung für die palästinensischen Maßnahmen als Sympathie für die Hamas zu brandmarken«. Wirklich kluge Worte.