Vom Ort eines Massakers
3. Juli 2015
Zeitzeugen-Beiträge, die das »Erinnern für die Zukunft« befördern
»Ich frage mich heute oft, ob wir den Toten von damals gerecht geworden sind. Ich fürchte nein. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Zahl der Rechtsradikalen von Jahr zu Jahr zunimmt und sie sogar in Parlamenten sitzen; wie es seit Jahren beinahe zur Tagesordnung gehört, dass Menschen überfallen werden, dass jüdische Friedhöfe geschändet werden, dass Asylbewerber gejagt werden oder ihnen das Haus über dem Kopf angezündet wird, dass Schwarze diskriminiert werden. Und wenn ich mir vor Augen führe, wie unser Staat immer mehr zu einem Überwachungsstaat wird, der uns Bürger unter Generalverdacht stellt, sie aushorcht und bespitzelt, der auf dem ‚rechten Auge blind‘ ist und stattdessen diejenigen verfolgt, die sich den Nazis entgegenstellen. Nein, das habe ich mir anders vorgestellt, als wir damals in Berlin waren, zwar befreit , aber konfrontiert mit dem Unvorstellbaren, das in den Konzentrationslagern geschehen ist. Wir haben uns ein anderes Deutschland erhofft.«
Diese Sätze hat die Münchner Journalistin Karin Friedrich, die dieses Jahr 90 Jahre alt geworden ist, im Mai 2007 in ihrer Gedenkansprache auf dem KZ-Friedhof im oberbayerischen Surberg gesagt. Als Jugendliche in Berlin war sie an den Aktivitäten einer Widerstandsgruppe aus dem Freundeskreis ihrer Mutter Ruth beteiligt, die NS-Verfolgte vor den Nazis versteckte und unterstützte.
Karin Friedrichs Sätze, aktuell wir vor acht Jahren, sind nachzulesen in dem Buch »Gedenkfeiern gegen das Vergessen – Der KZ-Friedhof in Surberg«, das Friedbert Mühldorfer zum 70. Jahrestag des an diesem Ort stattgefundenen SS-Massakers, das über 60 Häftlinge das Leben kostete, veröffentlicht hat. »Die Todesmärsche«, schreibt der Herausgeber einleitend, » – ein Begriff, den Häftlinge selbst geprägt haben – zeigten gerade auch in der Endphase nochmals den Kern nationalsozialistischer Ideologie und Politik: die rücksichtslose Ausbeutung angeblich minderwertiger und politisch missliebiger Menschen zur Sicherung der Vorrechte selbst definierter ‚Herrenmenschen‘. Dazu wurden zunächst durch Terror nach innen die politischen Gegner ausgeschaltet und durch Rassismus und Ausgrenzung eine deutsche ‚Volksgemeinschaft‘ beschworen. Mit Unterdrückung, Krieg, Ausplünderung der eroberten Länder und durch millionenfache Vernichtung von Juden, Sinti und Roma und Slawen sollte dieses Ziel der Vorherrschaft erreicht werden.«
Das Massaker an den KZ-Gefangenen im Surtal fand wenige Stunden vor dem Eintreffen der amerikanischen Befreier im Landkreis Traunstein, zu dem das Tal gehört, statt. Im Einleitungskapitel »Die Geschichte des KZ-Friedhofs Surberg« wird darauf und auf die Folgen eingegangen. Beginnend mit der feierlichen Beisetzung der Ermordeten im November 1945 wird das Entstehen einer Gedenkstätte in den folgenden Jahren geschildert. Noch 1947 geplant mit einer »aus Kupferblech getriebenen Friedenstaube als Symbol« bekommt sie schließlich 1952/53 unter Regie der »Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen« die Form einer »Kriegsgräberstätte« mit einem fünf Meter hohen Holzkreuz und zahlreichen kleinen Grabkreuzen. Die jüdische Herkunft eines großen Teils der Ermordeten wird ignoriert.
Danach setzen dann auch hier, so das Buch, »Jahrzehnte des Schweigens und der Verdrängung« ein . Unter der Überschrift »Würdige Gedenkfeiern seit 1985« wird dokumentiert, wie auf Betreiben der Anfang der 80er-Jahre im Landkreis wiedergegründeten VVN-BdA der Gedenkort dem Vergessen entrissen, die verwilderte Anlage renoviert wird. Und wie dann das seither jährlich stattfindende Gedenken zunehmend breiteres Interesse findet, wie sich etwa zum 50. Jahrestag des Massakers eine Bürgerinitiative gründet, die erreicht, dass ein Chanukka-Leuchter aus Bronze als Hinweis auf die jüdischen Opfer aufgestellt wird.
Die gewachsene Aufmerksamkeit, die der Veranstaltung zuteil wird, liegt aber vor allem daran, dass es der VVN-BdA Traunstein als Initiatorin und Hauptveranstalterin bis jetzt gelungen ist, jedes Jahr als Rednerinnen und Redner Überlebende der NS-Verfolgung und aus dem Widerstand zu gewinnen. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus aller Welt, die schildern, was sie erlebt haben – und welche Folgerungen sie daraus für die Gegenwart ziehen.
Die Dokumentation dieser Beiträge macht den Hauptteil des Buches aus. Ansprachen ganz unterschiedlicher Art – aber jede für sich eine wertvolle Anregung zum Weiterdenken. In Surberg ergriffen im Lauf der vergangenen 30 Jahre das Wort: Salec Beldengruen, Marko Feingold, Karin Friedrich, Ernst Grube, Hugo Höllenreiner, Hermann Höllenreiner, Pavel Hajduk, Pavel Kohn, Zbigniew Kolakowski, Martin Löwenberg, Max Mannheimer, Kurt Messerschmidt, Carl Ostermayer, Anni Pröll, Karl Rom, Marie-Luise Schultze-Jahn. Von einigen mussten wir uns inzwischen leider für immer verabschieden, vor kurzem gerade erst von Hugo Höllenreiner.
So ist diese Dokumentation zu einer Gedenkveranstaltung auch selbst schon wieder eine Art Gedenkbuch. Und dank der dort zusammen getragenen Aussagen nicht allein dem Erinnern, sondern auch unserem weiteren Handeln zuträglich.