Eine Reise der Hoffnung
9. Juli 2015
Auszug aus der Rede von Martin Schulz vor den Teilnehmern des »Zug der 1000«
Liebe Freunde, es bewegt mich tief, zu sehen, dass sich eintausend junge Menschen aus ganz Europa heute hier in Auschwitz versammelt haben.
Als Deutscher, als Politiker und als Vater bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie aus Belgien, aus der Tschechischen Republik, aus Deutschland, Frankreich, Polen, Italien, Ungarn, Estland – aus ganz Europa – nach Auschwitz gekommen sind.
Zwischen Lagerbaracken und Stacheldraht, zwischen Wachtürmen, Bahngleisen und Selektionsrampe, zwischen Krematorien und Gaskammern, an diesen Ort, der für so viele Menschen, denen ein Grab versagt blieb, zum Friedhof wurde – an diesen Ort der Barbarei haben Sie Hoffnung gebracht.
Die Hoffnung, dass die Erinnerungen der Überlebenden nie vergessen werden, dass sie von jeder Generation an die nächste weitergeben und sie so zu unserer gemeinsamen Erinnerung wird.
Die Hoffnung, dass diejenigen, die zu unserer Schande aus der Geschichte nichts gelernt haben, nicht siegen werden. Bis heute gibt es Menschen, die den Holocaust leugnen, uns davon zu überzeugen versuchen, dass der Schmerz und die Verluste, die unschuldige Opfer erleiden mussten, falsch und unwahr seien. Die Verletzten beleidigen sie auch noch. Das werden wir niemals hinnehmen.
Sie haben an diesen Ort der Dunkelheit die Hoffnung gebracht, dass diejenigen, die heute in Europa Juden, weil sie Juden sind, beleidigen, bedrohen und angreifen, niemals die Oberhand gewinnen werden. Denn wir verneigen uns vor den Opfern des Hasses und geloben, die Lebenden zu schützen.
Sie haben die Hoffnung an diesen Ort der Dunkelheit gebracht, dass wir zusammen gegen die Rückkehr der Dämonen der Vergangenheit kämpfen können und kämpfen werden. Antisemitismus und Rassismus, Intoleranz und Nationalismus zeigen erneut ihre hässliche Fratze. Es macht mich wütend und es schmerzt mich, dass in Europa wieder Unterkünfte für Asylbewerber in Brand gesteckt werden und Populisten Hass verbreiten. Aber wir werden die Dämonen der Vergangenheit nicht triumphieren lassen.
Sie haben die Hoffnung an diesen Ort der Dunkelheit gebracht, dass wir für Freiheit und Gerechtigkeit, für Demokratie und Menschenwürde kämpfen werden. Heute und an jedem Tag.
Von diesem Ort der Dunkelheit aus rufe ich allen Europäern zu: Auschwitz, dieser Tiefpunkt der Zivilisationsgeschichte, ist eine Mahnung an uns alle, die Achtung der Menschenwürde zum Leitprinzip unserer Taten und unserer Politik zu machen.
Heute ist das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt. Jeder Mensch, der dort sein Leben verliert, ist ein Schandfleck für Europa. Doch die europäischen Regierungen werden der Herausforderung nicht gerecht, sie übernehmen nicht die ihnen zukommende Verantwortung. Dies ist eine Schande!
Der menschliche Anstand fordert, dass wir Menschen, die vor unseren Küsten ertrinken, eine rettende Hand entgegenstrecken. Dass Europa denen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Schutz bietet.
Wir sind an diesem 8. Mai in Auschwitz zusammengekommen, genau 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Menschen vieler Nationen hatten große Opfer gebracht, um dem von Nazideutschland ausgeübten Terror zu beenden, diesem Regime ein Ende zu setzen, das unserem Kontinent Tod und Zerstörung brachte. Am 8. Mai vor 70 Jahren wurden die Opfer befreit und die Menschen konnten die Unterdrückung abschütteln.
Aus den Trümmern und den Ruinen des Nachkriegseuropas errichteten mutige Männer und Frauen ein neues Europa und schworen dabei: »Niemals wieder!«. Sie bauten ein Europa der Demokratie und der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Ein Europa, in dem jeder sein kann, wer er ist, lieben kann, wen er will und glauben kann, was er will.
Sie, die Sie aus ganz Europa in Auschwitz zusammengekommen sind, um die Toten zu ehren, die Erinnerung lebendig zu erhalten und die Dämonen der Vergangenheit niemals wiederkehren zu lassen – Sie werden dieses Europa erben. Es wird an Ihnen sein, den Schwur des »Niemals wieder!«, den Schwur der Überlebenden und deren Hoffnung auf eine bessere Welt zu erfüllen. Und wenn ich Sie ansehe, die Sie eine Reise in den Tod in eine Reise der Hoffnung umgekehrt haben, dann ist mir nicht bange um die Zukunft.