Taubenschlag der Reaktion

geschrieben von Ernst Antoni

30. August 2015

Wie die »Thule-Gesellschaft« ab 1918 den Aufstieg der Nazis beförderte

 

»Veröffentlichungen, die auf Effekthascherei bedacht sind und mit einem Rückgriff in das Irrationale die politische Rolle der Thule-Gesellschaft verklären, gibt es genug. Ganz im Gegensatz zu Literatur, die sich an nachweisbaren Quellen orientiert. Mit der vorliegenden Arbeit möchte der Verfasser dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Und es gibt noch einen weiteren Grund für die Veröffentlichung«, schreibt der Autor: »Die Thule-Gesellschaft ist mit einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte eng verbunden, doch ihre Ideologie ist mit dem Dritten Reich nicht untergegangen. (…) ›Thule‹ wurde zu einer Art Schlüsselwort im Kommunikationssystem der extremen Rechten.«

Hermann Gilbhard, Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, Verlag Clemens Kiessling München, 234 S., 28 Euro

Hermann Gilbhard, Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, Verlag Clemens Kiessling München, 234 S., 28 Euro

Hermann Gilbhard, Politologe und viele Jahre für den Bayerischen Rundfunk journalistisch mit wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen befasst, hat zur Eröffnung des neuen NS-Dokumentationszentrum in München eine von ihm vor längerer Zeit veröffentlichte Studie über die aus dem völkisch-antisemitischen »Germanenorden« hervorgegangene Gruppierung überarbeitet und aktualisiert: »Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz«.

Ein einführender Exkurs durch völkische und völkisch-esoterische Ideologie- und Organisationslandschaften des 19. Jahrhunderts bis in den Ersten Weltkrieg hinein führt uns zur Münchner Loge jenes »Germanenordens«, die im August 1918 im Nobelhotel »Vier Jahreszeiten« trotz des Kriegs-elends ihre »Weihe« mit einer »prächtigen Festtafel« begehen kann. Am Finanziellen wird es auch in Folge dem »Thule«-Gründer Rudolf von Sebottendorf nicht mangeln.

1875 in Hoyerdswerda als Rudolf Glauer geboren, fährt dieser nach einer abgebrochenen Ingenieursausbildung zur See, landet schließlich in der Türkei und befasst sich dort mit Okkultismus und Astrologie. 1913 zurück in Deutschland, nach eigener Angabe inzwischen von einem Baron von Sebottendorf adoptiert, wird er im »Germanenorden« aktiv. Dessen Münchner Ableger, fürderhin »Thule-Gesellschaft« genannt, richtet im »Vier Jahreszeiten« ein Büro ein und unterhält dort eine eigene Redaktion. Der Titel der Zeitung, die antisemitische Texte, Hetze gegen die Republik und Veranstaltungsankündigungen der Gesellschaft verbreitet: »Münchener Beobachter«. 1920 wird die NSDAP das Blatt kaufen und ihm den Titel »Völkischer Beobachter« geben.

Von Anfang an spielt bei den Auftritten der Thule-Gesellschaft das Hakenkreuz-Symbol eine Rolle. Von anderen völkisch-nationalistischen Gruppierungen dieser Zeit unterscheidet sie sich jedoch vor allem durch ihre beachtlichen finanziellen Mittel und den Zuspruch, den sie in gehobeneren Kreisen der bayerischen Gesellschaft findet. Nachdem am 8. November 1918 Kurt Eisner als Revolutionsergebnis den »Freistaat Bayern« proklamiert hatte, formiert sich ein »Kampfbund Thule« als Militärorganisation der Gesellschaft.

Hermann Gilbhard zitiert eine Rede Sebottendorfs, die dieser bei einer gemeinsamen Versammlung von Thule-Gesellschaft und Germanenordnen am 9. November 1918 hält: »Wir erlebten gestern den Zusammenbruch all dessen, was uns lieb und wert war. An Stelle unseres blutsverwandten Fürsten herrscht unser Todfeind: Juda. Die gestrige Revolution, gemacht von Niederrassigen, um den Germanen zu verderben, ist der Beginn der Läuterung. Es geht jetzt Auge um Auge, Zahn um Zahn! Jetzt heißt es kämpfen, bis das Hakenkreuz siegreich aufsteigt!«

Die Thule-Räume im Nobelhotel werden, so Gilbhard, zum »Taubenschlag«, zum »Zentrum der gegenrevolutionären Kräfte Münchens«. Über dieses Zentrum laufen zu weiten Teilen Gründungen und Koordination von Freikorps wie »Epp« und »Oberland«, letzteres unmittelbar von Sebottendorf mitbegründet. Im Umfeld der Thule-Gesellschaft finden sich 1919 fast alle nationalistischen Gruppen, auch der Alldeutsche Verband. Und die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) ist dabei, die sich dann in NSDAP umbenennt. Spätere NS-Größen wie Hans Frank, Rudolf Heß und Alfred Rosenberg sind Thule-Aktivisten.

Dennoch: Diese Thule-Gesellschaft hatte ihre Hoch-Zeit in dieser Zeit von Revolution und Konterrevolution, über ihr völkisch-antisemitisches Modell ließ sich das Konstrukt einer »jüdisch-bolschewistischen« Verschwörung instrumentalisieren. Halbseidene Pseudo-Barone wie Glauser-Sebottendorf können mit mythisch-okkultistischen Einsprengseln und passender Rhetorik durchaus hilfreich sein. Danach kann es dann wieder »rationaler« weitergehen. Die NSDAP bedurfte seiner auf dem Weg zur Macht und vor allem nach deren Übergabe an Hitler nicht in besonderem Maße.

Sebottendorf war eine Karriere im NS-Regime versagt, enttäuscht zog er wieder in die Türkei. Für die »Endlösung der Judenfrage«, für weitere Programme zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens« und mörderischen Antikommunismus und Antisozialismus kamen kompetentere Kräfte mit noch wesentlich besserer wirtschaftlicher Ausstattung zum Einsatz.

Was nicht bedeuten soll – und davon zeugen viele Beispiele nicht nur in neofaschistischen Spektren – dass wir heute braune Germanen-Nostalgien, Thule-Konstrukte und esoterische Inszenierungen unbeachtet lassen könnten.