»Gott! Ukraine! Freiheit!«

geschrieben von Christian Harde

5. September 2015

Wurzeln und Politik des Rechten Sektors

 

Wie hatte alles doch vielversprechend angefangen: Die ukrainische Zivilgesellschaft war nach Jahrzehnten grausamster Unterdrückung erwacht, das Land endlich auf dem Weg nach Europa, wohin es doch eigentlich schon immer gehört hatte. Die Ukraine wollte den Bruch mit Diktatur und Korruption, Terror und Verbrechen. Sie hatte sich aufgemacht, Rückständigkeit, den verderblichen russischen Einfluss und alles Kommunistisch-Sowjetische ihrer düsteren Vergangenheit hinter sich zu lassen. So der Tenor von Medien und Politik hierzulande.

Die nun beinahe zwei Jahre dauernde Krise und der Krieg in der Ukraine haben die geostrategische und wirtschaftspolitische Einbindung des Landes in den Westen zum Inhalt. Der Streit um das EU-Assoziierungsabkommen führte zu massenhaften Protesten, dem sogenannten Euromajdan. Wie bei anderen »Bunten Revolutionen« kam es zur Eskalation zwischen der – im Falle der Ukraine international unbeanstandet gewählten – Führung des Landes und einem Teil der Gesellschaft. Den Höhepunkt bildeten die bis heute ungeklärten Schüsse vom Majdan im Februar 2014 mit mindestens 80 Toten, die zur Flucht von Präsident Janukowitsch und dem Machtwechsel führten. Weitere Stationen des Konflikts waren Proteste gegen das neue Regime in der Ost- und Südukraine sowie auf der Krim. Deren völkerrechtlich zumindest hochproblematische Abspaltung von der Ukraine im März 2014 und zunehmende Spannungen im schwerindustriell geprägten Donbass lieferten Kiew den Vorwand, im April 2014 die kriegerische »Anti-Terror-Operation« gegen die Aufständischen im Südosten zu beginnen. Das Massaker von Odessa am 2. Mai 2014, als möglicherweise über hundert Menschen vor und im Gewerkschaftshaus bestialisch ermordet wurden, führte ebenso wie der Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 am 17. Juli 2014 über dem Donbass mit 298 Toten zu weiter steigenden Spannungen in und um die Ukraine. Wie die Schüsse vom Majdan blieben auch diese beiden Vorfälle bis heute offiziell ungeklärt, obwohl doch Kiew das allergrößte Interesse an einer Aufklärung haben müsste.

Wie lässt sich die fatale Lage der Ukraine erklären? Der Staatsstreich und die Rochade innerhalb der ukrainischen Oligarchie wären nicht durchführbar gewesen, hätte es nicht eine Reihe extrem nationalistischer, paramilitärischer und faschistischer Gruppierungen, Parteien und Organisationen gegeben. Unter ihnen spielte der »Rechte Sektor« (Pravyj sektor) die zentrale Rolle, und zwar in allen Phasen des Regimewechsels sowie bei der nachfolgenden Stabilisierung der neuen (Un-) Ordnung.

Der »Rechte Sektor« (RS) und seine Führungsfigur Dmytro Jarosch (geb. 1971) stehen in direkter Nachfolge des ukrainischen Nationalismus, wie er sich seit Ende des 19. Jahrhunderts und infolge des Ersten Weltkrieges herausbildete. Wie Joseph Roth, der österreichisch-jüdische Schriftsteller aus Galizien, 1939 formulierte, war »Der ukrainische Nationalismus – ein deutsches Patent«. Schon die Kriegszielplanung des Kaiserreiches setzte auf die Instrumentalisierung der Ukrainer zur Schwächung und möglichen Zerlegung des Zarenreiches. In der Zwischenkriegszeit förderte die Weimarer Republik die nationalistische ukrainische Emigration – gegen die junge Sowjetunion und das wiedererstandene Polen. Nazis und Reichswehr pflegten Kontakte zur »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (OUN). Deren militärischer Arm, die 1942 gegründete »Ukrainische Aufstandsarmee« (UPA), kollaborierte zeitweise mit Nazis und Wehrmacht – und war für die Ermordung zehntausender Polen verantwortlich sowie an der Vernichtung der Juden beteiligt. Über den Sohn Jurij des UPA-Kommandeurs Roman Schuchewytsch ist auch persönlich eine Verbindung zur Vorläuferpartei des Rechten Sektors, UNA-UNSO, gegeben.

Andere Organisationen, aus denen der Rechte Sektor hervorgegangen ist, berufen sich auf Stepan Bandera, den zweiten Anführer der OUN und Nazi-Kollaborateur. Vermittelt über den »Dreizack«, dem ebenfalls Jarosch vorstand, kam der Rechte Sektor zu seiner Losung »Gott! Ukraine! Freiheit!«. Dieser Verband, nach dem ukrainischen Wappen benannt, stand und steht in der Tradition von Dmytro Donzow, der zu den wichtigsten Ideologen der OUN zählte. Er erhob die amoral’nist’ (Amoralität) zu einem Prinzip im Kampf um den ukrainischen Nationalstaat. Historisch wie in der Gegenwart bilden die »Zehn Gebote des ukrainischen Nationalisten« ein Kernstück ihrer Ideologie – ein Auszug: »1. Du wirst einen ukrainischen Staat erreichen oder im Kampf dafür sterben. (…) 8. Behandle die Feinde Deiner Nation mit Hass und ohne Rücksicht. (…) 10. Strebe danach, die Macht, den Reichtum und den Ruhm des ukrainischen Staates zu mehren.« Antikommunismus und Russo-phobie sind der gemeinsame Nenner des heutigen ukrainischen Nationalismus – entsprechend soll die ukrainische Gesellschaft formatiert werden (historisch gehörten Antisemitismus und Feindschaft gegen Polen dazu, beides verbietet sich in der Gegenwart aus taktischen Gründen).

Dies ist der konzeptionelle Hintergrund für das gewaltsame Vorgehen gegen Andersdenkende auf dem Euromajdan, aber auch für die faktische Ausschaltung der Opposition bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014. Dieselbe Ideologie pflegen die neu geschaffene Nationalgarde (hauptsächlich aus Rechtsradikalen vom Euromajdan formiert) sowie die sogenannten Freiwilligenverbände. Schon auf dem Euromajdan war nationalistische und faschistische Symbolik (»Keltenkreuz«, »Wolfsangel« usw.) sehr präsent. Auch ein übergroßes Porträt von Bandera war aufgestellt. Die Freiwilligenverbände und Privatarmeen der Oligarchen, die im Donbass eingesetzt werden, tragen entsprechende Abzeichen, so das berüchtigte »Regiment Asow«.

Trotz aller Nähe hat der Rechte Sektor ein zwiespältiges Verhältnis zum Regime von Präsident Poroschenko und Premier Jazenjuk. Jarosch ist zwar »Berater« des Generalstabs des ukrainischen Militärs, und Wadim Trojan (geb. 1980), ein Kämpfer des RS aus Charkow, wurde zum Polizeichef des Kiewer Gebiets ernannt, doch den staatlichen Hierarchien will man sich nicht unterordnen. In der Tradition von Bandera vertritt man einen »revolutionären Nationalismus« und sieht in der jetzigen Regierung »ein politisches Regime der inneren Okkupation«, mithin »Verräter«. Dazu zwei Beispiele:

Im April 2015 wurde in Kiew der oppositionelle Journalist Oles Busina ermordet. Alles andere als ein Linker, vertrat er ein Gemisch aus klerikalen, monarchistischen und reaktionären Positionen, die in einem gewissen Spektrum der postsowjetischen Gesellschaft Anklang finden. Busina setzte sich aber auch für Zusammenarbeit und Verständigung von Ukrainern, Weißrussen und Russen ein. Dies wurde ihm zum Verhängnis. Seine mutmaßlichen Mörder aus dem Rechten Sektor sitzen in Untersuchungshaft und machen für die Ermordung Businas indirekt die Regierung verantwortlich.

Im Juli 2015 kam es zur Machtprobe zwischen Rechtem Sektor und Präsident Poroschenko. Zunächst forderte der RS eine neue Offensive im Donbass und behinderte die Arbeit der OSZE-Teams. Den militärischen Weisungen aus Kiew leistete der RS keine Folge mehr. Als die Offensive ausblieb, inszenierte offenbar der RS in Mukatschewo (Transkarpatien, also im äußersten Südwesten der Ukraine) eine Schießerei. Einige Tote waren zu beklagen. In die gewaltsamen Auseinandersetzungen waren der Rechte Sektor, die Miliz und Truppen des Innenministeriums verwickelt. Verbindungen des RS zur organisierten Kriminalität wurden laut – der Schmuggel von Zigaretten über die Grenze nach Ungarn ist eine einträgliche Finanzquelle. Auch die Grenze zu Transnistrien soll sich unter der Kontrolle des RS befinden. Die Schützen des RS konnten entkommen. Gleichzeitig zog der RS seine Kämpfer aus dem Donbass ab, drohte Poroschenko im Falle eines neuen Putsches mit der Todesstrafe und errichtete Straßensperren um Kiew und Camps vor der Präsidentenadministration. Ende Juli erklärte dann ein Berater von Jarosch: »Der Rechte Sektor braucht keine Wahlen, sondern eine Revolution.«

Offizielle Kiewer Politik und faschistische Paramilitärs benötigen Krise und Krieg als raison d’être – kommt es zum Nachlassen der Spannungen, sorgen sie für neue Eskalation, Terror und Gewalt. Die sich in letzter Zeit abzeichnende neue Offensive gegen die Aufständischen im Donbass dürfte den Rechten Sektor weiter stärken.