Die Nürnberger Gesetze
7. November 2015
Vom »Schutz des deutschen Blutes« und der »Erbgesundheit«. Von Peter Kirchner
Im Verlaufe der Erinnerungsveranstaltungen in diesem Jahr haben wir besonders der 70. Wiederkehr des Tages der Befreiung vom Hitlerfaschismus gedacht. Aber genau zehn Jahre früher, im September 1935, war auf dem alljährlich veranstalteten Reichsparteitag in Nürnberg die Verkündung dreier Gesetze erfolgt, von denen nur eines, das Flaggengesetz, von geringerer Bedeutung war. Die beiden anderen gingen als »Reichsbürgergesetz« und als »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« in den faschistischen Gesetzeskanon ein, im Oktober des gleichen Jahres wurden sie durch das »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« (Ehegesundheitsgesetz) ergänzt.
Eingeschoben sei hier ein kurzer Exkurs zu der Frage, was denn eigentlich unter dem Begriff »die Juden« im Deutschland des Jahres 1933 und später zu verstehen war, ob und vor allem wie sich diese Gruppierung vom »Deutschen Volk« abgrenzte. In Deutschland lebten damals etwa 500.000 Menschen, die sich zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekannten. Dies war eine religiöse Zuordnung, wie jene der evangelischen oder katholischen Christen. Aber die Verfolgung der Juden hatte über die Jahrhunderte hinweg im christlichen Europa eine lange Tradition, meist begründet durch die im christlichen Glauben und in den kirchlichen Schriften nachhaltig vertretene Feststellung, dass die Juden, und nur sie, am Tode Jesu Schuld seien. Diese Unterstellung hatte schon bei den Verfolgungen in früheren Jahrhunderten – z. B. im Rahmen der mittelalterlichen Kreuzzüge – für Plünderungen und Vertreibungen an jüdischen Menschen, ja auch deren Ermordung, herhalten müssen.
Basierend auf diesem kirchlichen Antijudaismus meinten viele Menschen in Deutschland, dass die faschistischen Vorbehalte gegenüber den Juden in einer historischen Traditionsreihe ständen und die Anfeindungen allein die Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft beträfen. Das glaubten nicht zuletzt auch viele ehemals jüdische Menschen, die selbst – oder deren Vorfahren – zu einem anderen Glauben übergetreten waren und sich so überhaupt nicht mehr als Juden empfanden.
Neben den Kommunisten wurden die Juden durch die Nazis zum Hauptfeind des deutschen Volkes gestempelt, nur mit dem Unterschied, dass in ihrem Fall die ganze Familie, alle Angehörigen vom Säugling bis zum Greis, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung, zum Gegenstand der Angriffe gemacht, und im weiteren Verlauf dann in den Kreis der Lebensunwerten, zu Tötenden, eingereiht wurden.
Nur eine Woche nach dem Boykott jüdischer Geschäfte wurde schon am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erlassen, in dem es hieß, dass Beamte nichtarischer Abstammung in den Ruhestand zu versetzen seien, ausgenommen wurden lediglich jene, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte waren bzw. im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich gekämpft hatten. Dieses Zugeständnis der sogenannten »Frontkämpferklausel« war ein nur zeitweiliges und eine Rücksichtnahme auf jene Parteigänger, die in den eigenen Reihen gegen allzu rigorose antijüdische Maßnahmen waren, nicht zuletzt im Bereich des Offizierskorps im aktiven Dienst oder der Reserve, die sicher nicht primär den Juden besonders zugewandt waren , sondern aus etwas verworrenen Vorstellungen über den »Dank des Vaterlandes« gegenüber den früheren Kriegskameraden ihre Bedenken formulierten. Nicht zuletzt war es Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, gegen dessen Einspruch man – zumindest zu seinen Lebzeiten – sich seitens der neuen Machtelite noch nicht durch offene Konfrontation durchsetzen wollte.
Die »arische Rasse«
Und ein Begriff war hier in die Gesetzgebung eingeflossen, jener der arischen Rasse, die mit dem reinen Deutschtum gleichgesetzt wurde: Als nichtarisch im Sinne dieses Gesetzes im Jahre 1933 galten alle Personen, bei denen mindestens ein Großelternteil der jüdischen Religion angehörte. Eine sehr stringente Festlegung. Hier sollten die späteren Gesetze vom September 1935 dann eine genauere und sogar etwas weniger einschränkende Festlegung treffen. In einer am 30. Juni 1933 erlassenen Zusatzverordnung war dieses Gesetz auch auf Personen des Beamtenstandes ausgedehnt worden, die mit einer Person nichtarischer Abstammung die Ehe eingehen und deshalb zu entlassen seien. Dabei waren jedoch ausdrücklich Ausnahmen in Einzelfällen und im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern zugelassen.
In einem weiteren »Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen« vom 25. April 1933 wurde festgelegt, dass für die Besucher jeder Schule und jeder Fakultät der Anteil der Nichtarier deren prozentualen Anteil an der reichsdeutschen Gesamtbevölkerung nicht überschreiten dürfe. Angesichts von 1/2 Million religiös zugeordneten Juden betrug dies an der damaligen Bevölkerung (etwa 62 Millionen) nur etwas mehr als 1% und stellte damit eine massive Behinderung dar. Gerade im Bereich der Schüler war bis zu diesem Zeitpunkt nur ein geringerer Teil an eigenständigen Jüdischen Schulen eingeschult worden. Für die jüdische Gemeinschaft entstand nun die große Aufgabe, die Möglichkeiten eines umfassenderen eigenen Schulsystems zu erweitern.
Im »Reichserbhofgesetz« vom 29. September 1933 wurde festgeschrieben, dass Bauer nur der sein könne, der deutschen oder stammesgleichen Blutes sei, davon aber ausgeschlossen bleibe, wer unter seinen Vorfahren jüdisches oder farbiges Blut (was immer man sich unter letzterem vorstellte) habe. In diesem Zusammenhang wurde formuliert, dass der nichtarischen Bevölkerungsgruppe auch Zigeuner und Farbige zugeordnet wurden. In immer gleicher Form des Ausschlusses wurden die Einschränkungen auch im »Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft« vom 7. April 1933 bzw. der »Zulassung der Steuerberater« vom 6. Mai 1933 formuliert.
In der »Verordnung über die Zulassung von Ärzten bei den Krankenkassen« vom November 1933 findet sich erstmals in einem Gesetz der zusätzliche Hinweis, dass dieser Ausschluss sowohl bei Personen nichtarischer Abstammung als auch bei solchen mit einer Betätigung im kommunistischen Sinne gelte. In einer Zusatzverordnung vom Mai 1934 wurde diese Ausschließung dann auch auf Ärzte ausgeweitet, deren Ehepartner nicht-arischer Abstammung waren.
In den nachfolgenden Jahren kam es immer wieder zu Angriffen auf jüdische Einrichtungen, insbesondere aber auf Einzelpersonen und deren privaten Besitz. All dies führte dazu, dass es zunehmend Proteste aus dem Ausland gab, denen man seitens der Regierung Rechnung tragen musste. Die Vertreter der eigenen Industrie (insbesondere im Rüstungssektor) hielten wegen der befürchteten Nachteile für die weitere Entwicklung zumindest in dieser Zeit (dem Jahr 1933/34) eine offene Benachteiligung jüdischer Unternehmen für nicht angeraten. Da schien es zeitweilig geboten, mittels Anweisungen weitere direkte Übergriffe antijüdischer Art, wie sie meist von der SA ausgingen, zu untersagen, wenngleich ernsthafte Verurteilungen bei Verstößen meist nicht zustande kamen. Entscheidendes Resultat war, dass in dieser Phase die antijüdischen Aktivitäten, die meist von der unteren Ebene der SA bei spontanen Übergriffen bestanden hatten, zeitweilig abklangen, um dann aber im Übergang zum Jahre 1935 und insbesondere in der Mitte des Jahres wieder zuzunehmen.
Gleichzeitig erschien dann im Herbst 1935 die Zeit reif, mit neuen Gesetzen die antijüdischen Maßnahmen in eine neue Form zu bringen. Es erschien notwendig, das weitere Vorgehen durch entsprechende verschärfte antijüdische Gesetze zu regulieren, ging es doch letztendlich darum, den Kreis der Auszugrenzenden genauer zu klassifizieren.
Der Nürnberger Parteitag 1935
So geschehen dann auf dem alljährlichen Reichsparteitag in Nürnberg vom 10. bis 16. September 1935. Die Zusammenkunft hatte den Namen »Parteitag der Freiheit« bekommen und stand schon in seinem ganzen äußeren militärischen Gehabe – mit einem Tag der Wehrmacht – ganz im Sinne der Bestätigung, die riesigen Kosten, die die Aufrüstung der gesamten Volkswirtschaft aufbürdete, den breiten Massen als unbedingt notwendig erscheinen zu lassen. Bei den offiziellen Reden, die auf dem Parteitag gehalten wurden, war außerdem die antikommunistische Tendenz mit Ausfällen gegen die sowjetische Außenpolitik ein Schwerpunkt. Gleichzeitig wurde ausgedrückt, dass das Eindringen des Judentums in die Kultur und Politik der europäischen Staaten nicht hingenommen werden könne. In diesem Sinne seien auch die verkündeten Gesetze als Ausdruck des Kampfes gegen den Bolschewismus und die Juden zu verstehen, wie es Hitler in seiner Rede formulierte.
Als politischer Abschluss wurde am 15. September 1935 das »Reichsbürgergesetz« verkündet. Zielstellung war, eine unwiderrufliche Zurücksetzung der in Deutschland lebenden Juden zu erreichen. Die deutsche Bevölkerung wurde in zwei Gruppen unterteilt, zum einen die »Reichsbürger deutschen oder artverwandten Blutes«, die »alleinige Träger der vollen politischen Rechte« sein sollten, und die übrigen »Staatsangehörigen«, die zur politischen Rechtlosigkeit verurteilt wurden und zu denen vor allem die Juden gehörten. Im Gegensatz zum Staatsangehörigen galten als Reichsbürger Personen, die keinerlei Verbindung zu einem jüdischen Vorfahren hatten und dies über mehrere Generationen zurück nachweisen konnten. Ein Reichsbürger genoss das Recht, an allen Wahlen etc. unbeschränkt teilzunehmen, und er war selbst wahlfähig.
In § 4 der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 wurde dann auch ausdrücklich festgelegt, dass Juden keine Reichsbürger seien können, somit auch kein öffentliches Amt bekleiden dürfen. Während man vordergründig eine an das Blut gebundene Zugehörigkeit im Rassesinne zugrunde legte, wurde um einer besseren Zuordnung willen in § 5 erweiternd festgeschrieben, dass als Juden auch Personen galten, die durch Übertritt, z. B. bei einer Eheschließung, den jüdischen Glauben angenommen hatten, im Grunde genommen also eigentlich »rein-arischen Blutes« waren. Im Rahmen einer zweiten Verordnung wurde dann weiterführend festgelegt, dass solche Personen mit jüdischen Vorfahren aus allen leitenden Funktionen des Landes auszuschließen seien. Im Verlaufe der nachfolgenden Jahre wurden immerhin 13 Durchführungsverordnungen erlassen, die zunehmend weitergehende Maßnahmen gegenüber den Juden zum Inhalt hatten.
So z. B. die 4. Verordnung vom 25. Juli 1938, die allen jüdischen Ärzten die Allgemeine Approbation entzog und sie zu »Krankenbehandlern« machte, die nur noch jüdische Patienten betreuen durften.
Die 5. Verordnung vom 27. September 1938 entzog allen bei deutschen Gerichten zugelassenen jüdischen Rechtsanwälten das Vertretungsrecht.
In einer 8. Verordnung vom 17. Januar 1939 wurde auch allen jüdischen Zahnärzten, Tierärzten und Apothekern die Zulassung entzogen.
Die letzten drei Verordnungen trugen dann den eindeutigen Stempel der »Endlösung«. In der 11. Verordnung vom 25. November 1941 wurde allen nicht in Deutschland lebenden Juden die deutsche Staatsbürgerschaft abgesprochen und gleichzeitig die Einziehung ihres Vermögens verfügt.
In dem gleichzeitig verkündeten, sehr viel einschneidenderen »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« wurde darüber hinaus festgelegt, dass zukünftig Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes verboten seien. Ehen, die trotzdem im Ausland geschlossen wurden, galten als nichtig. Lediglich die vor dem Inkrafttreten geschlossenen Ehen blieben gültig, da dem Gesetz keine rückwirkende Kraft beigelegt werden konnte. Jeglicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen Blutes war verboten. Einbezogen wurde in dieses Verbot auch ein sexueller Kontakt zwischen Juden und jüdischen Mischlingen zweiten Grades, da letztere als für die deutsche Volksgemeinschaft noch nicht verloren angesehen wurden. Den Erläuterungen Stuckarts und Globkes zufolge wurde unter Geschlechtsverkehr nicht nur der direkte Beischlaf verstanden, sondern auch beischlafähnliche Handlungen. Gleichzeitig wurde bestimmt, dass weibliche Staatsangehörige deutschen Blutes unter 45 Jahren nicht in einem jüdischen Haushalt beschäftigt werden dürfen, weil – unausgesprochen – die Gefahr des Missbrauchs durch den jüdischen Haushaltungsvorstand bestände. Diese Gefahr der »Rassenschande« wurde in den erläuternden Darstellungen des »Stürmers«, dem berüchtigtsten antisemitischen Hetzblatt, ausgeweitet und vor einem Missbrauch arischer Kinder durch jüdische Männer gewarnt. Letztlich wurden jüdische Menschen als politische und gemeine Verbrecher »vom Blut her« diffamiert. In Nachtragserklärungen wurden – den Juden gleichgestellt – auch »Zigeuner« und »Neger« als untauglich zur Eheschließung mit deutschen Reichsbürgern eingestuft.
Hitler, der als einziger Redner dieses Tages auftrat, erklärte die Gesetze als eine Erfüllung des Volkswillens. Sie seien erlassen worden, um nun klare und dauerhafte Regelungen für das Verhältnis der Deutschen und der »Juden« zu schaffen. Mit der gesetzlich fixierten Trennung sei die »Judenfrage« für die Nationalsozialisten erledigt. Hitler war so skrupellos, die Nürnberger Gesetze neben der Abgrenzung als Ausdruck des ungestörten Zusammenlebens von Deutschen und Juden auszumalen. Auch dies ausschließlich ein vorgeschobenes Zugeständnis an die Außensicht auf Deutschland, um dortige Kritiker zu beruhigen. Gleichzeitig Grundlage dafür, dass viele der unter rassistischen Vorwänden verfolgten Menschen an ein Ende direkter Verfolgung glaubten und beschlossen, im Lande zu verbleiben, nicht zuletzt auch meine Eltern.
All dies wurde ausführlich in Band 1 der Kommentare zur deutschen Rassengesetzgebung durch den Staatssekretär im Reichsministerium des Innern Dr. Wilhelm Stuckart und den Oberregierungsrat Dr. Hans Globke erläutert.
Die Folgen der Nürnberger Gesetze
Mit den Gesetzen, die in Nürnberg verkündet worden waren, erhielt der deutsche Antisemitismus den Rang einer Staatsdoktrin, bot die Grundlage, nunmehr mit gesetzlich vorgegebenen Festlegungen Übergriffe auf einen ausgewählten Teil der Bevölkerung und deren Besitz durchzuführen. Die Absicht, Millionen Deutsche ideologisch so auszurichten, dass sie den Menschen neben sich nicht als ihresgleichen ansahen und folglich entsprechend verachten, seine Verfolgung hinnehmen würden, war damit vollzogen. Was zuvor noch Diffamierung von »Juden« durch die Karikaturen des »Stürmers« war, erschien nun als staatlich sanktionierte arische Lebensform. Gleichzeitig wurde jede Sympathiekundgebung für die jüdischen Verfolgten als staatsfeindliche Widerstandshandlung eingestuft und verfolgt.
Der Umstand, dass die jüdischen Mitbürger offiziell zu einer Gattung minderen Rechts gestempelt wurden und jede Gewalttat ihnen gegenüber als patriotische Tat sanktioniert, förderte das Hinnehmen jeglicher Aktivitäten gegenüber Juden durch die Gesamtbevölkerung. Besonders die jüngere Generation der deutschen Bevölkerung wurde so zu obrigkeitshörigen Untertanen erzogen, die bedenkenlos jeden Befehl ausführten.
Die erste Phase der Judenverfolgung war zu Ende gegangen, eine neue Etappe hatte begonnen, die dann mit dem Pogrom des 9. November 1938 in seine nächste, sehr viel bedrohlichere Form übergehen sollte, als nicht mehr die Tendenz zur Verdrängung und Nötigung zur Ausreise, sondern die wirtschaftliche Bereicherung an jüdischem Besitz im Mittelpunkt stand. Mit dem Beginn des Weltkrieges und insbesondere nach dem Überfall auf die Sowjetunion setzte dann die Phase der direkten Ermordung jüdischer Menschen durch Vergasung in den Konzentrationslagern und Massenerschießungen ein.
In den Auseinandersetzungen der Historiker über die Vorgeschichte des Nürnberger Parteitages und die dort verkündeten Gesetze gab es vielfältige Interpretationen. Gerade in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft waren die oft in entsprechenden Funktionen verbliebenen ehemaligen Mandatsträger daran interessiert, diese Gesetze als einsame Entscheidungen Hitlers hinzustellen. Angeblich sollten sie in nur wenigen Tagen vor dem 15. September 1935 wegen sonst fehlender Thematik auf direkte Anweisung Hitlers für den Parteitag formuliert worden sein. Nicht zuletzt versuchten die Verteidiger der Angeklagten in den Prozessen vor dem Nürnberger Militärgerichtshof mit solchen Erklärungen, eine Einbindung der Angeklagten in die verbrecherischen Absichten des Systems zu bestreiten.
Die hier vorgetragene zeitlich enge Aufeinanderfolge entsprechender antijüdischer Gesetze und Verordnungen zeigt jedoch, dass vom Anbeginn der faschistischen Herrschaft eine systematische Eskalation der Gesetzgebung erkennbar war. Auch die Gesetze von 1935 waren letztlich langfristig angedacht. Die verschärften Formulierungen waren genau bedachte Eingrenzung, um die nachfolgenden Maßnahmen gegen die Juden zu ermöglichen. Bereits im Sommer 1935 waren vielerorts vor Gerichten Prozesse wegen angeblicher Rassenschande gegen Juden durchgeführt worden. Der dabei erkennbare Mangel einer landesweiten verbindlichen Gesetzgebung war nun beseitigt.
Auch der Umstand einer gewissen Zurücknahme in der Gesetzgebung gegenüber den sogenannten Mischlingen 2. Grades war nun berücksichtigt. In den Vorplanungen zur Ausweitung der Wehrmacht waren die Überlegungen von Wichtigkeit, wie groß der Anteil von Wehrpflichtigen sein könne, die wegen ihrer sogenannten »jüdischen Versipptheit« nicht eingezogen werden könnten. Bei den Mischlingen zweiten Grades, also jenen, die nur einen jüdischen Großelternteil hatten, wurde diese Zahl der möglichen Wehrpflichtigen auf immerhin über 300.000 beziffert. In ihrem Falle wurde nun festgelegt, dass der arische Anteil überwiegen würde und daher eine mögliche Zuordnung als Reichsbürger vertretbar sei. Mischlingen 2. Grades war daher – wie auch den »Ariern« – eine Verheiratung mit Juden verboten, um somit einer weiteren »Verjudung« entgegen zu wirken.
Ein Indiz, dass eine längerfristige Vorbereitung bestand, war in der Tatsache zu erkennen, dass bereits im Juli 1935 in einem Runderlass mitgeteilt worden war, dass die Reichsregierung beabsichtige, »die Frage der Verehelichung zwischen Ariern und Nichtariern binnen kurzem allgemein gesetzlich zu regeln und daher Aufgebote von Vollariern und Volljuden vorerst bis auf weiteres zurückzustellen seien.« Dass die Verkündung auf dem Parteitag erfolgte, war somit eine logische Konsequenz, die sowohl die notwendige Aufmerksamkeit als auch die entsprechende Kulisse bot.
Reaktionen im In- und Ausland
Während in der deutschen Presse die gesetzlichen Festlegungen gefeiert wurden, war die Reaktion im Ausland kritisch ablehnend. Offen geblieben waren Richtlinien bezüglich des Vermögens der Juden, sowohl in Bankguthaben als auch an industriellem Besitz. Trotzdem war der Druck auf jüdische Unternehmer, ihre Firmen an arische Teilhaber zu überschreiben, zunehmend erkennbar, auch mit dem Hinweis, dass die Zukunft des Betriebes ohne jüdische Beteiligung im Sinne der Angestellten zu einer günstigeren Prognose führen würde.
Die Versuche, Deutschland zu verlassen, nahmen unter den Betroffenen zu und entsprachen somit den eigentlichen Absichten der Verdrängung jüdischer Menschen aus den deutschen Landen. Dabei waren jedoch die Chancen für die Betroffenen, in einem anderen europäischen oder überseeischen Land eine neue Heimat zu finden, beschränkt, nicht zuletzt deshalb, weil eine Mitnahme von Vermögenswerten nicht möglich war. Selbst die Versuche zionistischer Organisationen, eine Ausreise nach Palästina zu befördern, scheiterten weitestgehend an den begrenzenden Quotenregelungen der englischen Mandatsmacht, die eine Zuwanderung in größerem Rahmen nicht zuließ.
Bleibt abschließend nur zu konstatieren, dass oppositionelle Kreise, hauptsächlich unter den meist im Untergrund arbeitenden Kommunisten, die Gesetze scharf kritisierten. In kommunistischen Flugblättern wurde die demagogische Benutzung des Antisemitismus durch die Nazis gebrandmarkt und die Beendigung der antijüdischen Maßnahmen gefordert. So nachzulesen bei Saul Friedländer, einem ansonsten sehr bürgerlichen Historiker, in seiner umfangreichen Publikation »Das Dritte Reich und die Juden«, der diesen Umstand besonders hervorhebt.
Die Kirchen hielten Distanz in ihren Stellungnahmen, selbst in der Preußischen Bekenntnissynode wurde eine anfänglich geäußerte Sorge um die getauften wie ungetauften Juden dann wieder gestrichen. Die Mehrheit der Bevölkerung stimmte den Gesetzen aber durchaus zu, identifizierte sie sich doch mit der Rassenpolitik.
Seitens der jüdischen Gemeinschaft waren die Reaktionen widersprüchlich. Einerseits akzeptierte man die gesetzlichen Festlegungen in der Erwartung, dass damit eine gewisse Klärung der Zuordnung erfolgt sei, die keine weiteren Konsequenzen haben würde. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden glaubte trotz der bedrohlichen Vorzeichen an eine weitere Existenz in Deutschland, wenngleich andererseits die Tendenzen zur Auswanderung zunahmen, dabei aber die Länder, die bereit waren, Juden aufzunehmen, immer weniger wurden.