Vor 65 Jahren: Die »131er«

geschrieben von Ludwig Elm

2. März 2016

Fürsorge und Freispruch für Mitläufer und Täter des Verbrecherstaates

 

Das »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen« wurde am 11. Mai 1951 rückwirkend ab 1. April 1951 in Kraft gesetzt. Art. 131 ist bis heute Bestandteil des GG. Sein Wortlaut ist als Auftrag an den Gesetzgeber kaum auffällig. Er erscheint als die plausible Pflicht, bei einem staatlichen Neubeginn arbeits- und sozialrechtliche Belange von Hunderttausenden Angehöriger des öffentlichen Dienstes eines überwundenen Herrschaftssystems zu klären und rechtlich zu ordnen. Auch die Fraktion der KPD stimmte ihm zu. Bald wurde die gesellschaftspolitische, rechtliche und moralische Zwiespältigkeit und Tragweite sichtbar. Historisch ist von einem Schlüsselvorgang für die Herausbildung und den Weg der Bundesrepublik zu sprechen. Ihn in Geschichtsunterricht, politischer Bildung und medial inzwischen weithin zu übergehen, bedeutet, Herkunft und Wesen dieses Staates nach Hitler zu verzeichnen und zu beschönigen.

Der entscheidende Satz des Art. 131 lautet: »Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, sind durch Bundesgesetz zu regeln.« Entsprechendes gelte für Personen, die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und »keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten«. Die von gedienten NS-Juristen bei der Erarbeitung gewählten Formulierungen, »nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet« sowie »keine entsprechende Versorgung« erhaltend, hätten allerdings nachdenklich stimmen müssen. Es gab es jedoch noch Raum, diese Passagen antifaschistisch auszulegen. Das war von Regierungsmajorität und Koalition gerade nicht beabsichtigt.

Das restaurative Konzept des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit war schon in Forderungen während des Bundestagswahlkampfes im Sommer 1949 sichtbar geworden. Deutsche Partei (DP) und FDP, zwei der vier Parteien der ersten Bundesregierung unter Konrad Adenauer, forderten bereits eine Generalamnestie für alle Nazi- und Kriegsverbrecher. Der Vorsitzende der rechtskonservativen DP, Heinrich Hellwege, nannte Adenauer am 14. September 1949 zehn Punkte als Bedingung für den Eintritt seiner Partei in die Regierung. Dazu gehörte, die Entnazifizierung abzuschließen, das Pensionsrecht der Beamten einheitlich zu regeln und das Versorgungsrecht der Wehrmachtangehörigen »unter möglichster Aufrechterhaltung des seit 1918 entwickelten Rechtszustandes« wieder herzustellen. Noch am gleichen Tag stimmte Adenauer allem zu; am folgenden Tag wurde er zum Kanzler gewählt.

 

Entgelt für Staatstreue 1933 bis 1945

Nach der Vereidigung der Bundesminister aus CDU, CSU, FDP und DP, gab Adenauer am 20. September seine Regierungserklärung ab, in der die faschistische Diktatur und deren europaweite Verbrechen völlig unzureichend benannt wurden. Die Antihitlerkoalition, der europäische antifaschistische Widerstand, der Holocaust sowie dringliche Verpflichtungen der Wiedergutmachung gegenüber allen Opfergruppen wurden nicht einmal erwähnt. Neben den Vertriebenen und den Kriegsgefangenen wurden lediglich die Beamten und »Militärpersonen« als hilfsbedürftig hervorgehoben, deren Pensionen durch Gesetz zu regeln seien und die man behandeln müsse, »wie es recht und billig ist.« Dem entsprach die Forderung, Gerichtsverhandlungen »gegen diejenigen Deutschen, die in den alliierten Ländern wegen behaupteter Kriegsverbrechen zurückgehalten werden«, schnell zu beenden.

Die sofort eingeleitete Schlussstrichpolitik der Mitte-Rechts-Regierung verriet, dass mit dem 131er-Gesetz ungeachtet von Schuld und Belastungen alle formell Betroffenen, bis zur Generalität und zu leitenden Führungskreisen in der Hitlerregierung, Ministerialbürokratie, Wehrmacht, Justiz, SS und SD sowie alle beamteten Professoren, Ärzte und Lehrer sowie Kommunal-, Bildungs- , Sozial- und Kulturpolitiker fürsorglich verstanden wurden. Nur die Gestapo wurde ausgenommen, entsprechende Konsequenzen jedoch bald umgangen. Art. 16, Abs. 2, GG, bestimmte: »Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.« Damit wurde eine Grundposition der Antihitlerkoalition annulliert, die für NS- und Kriegsverbrecher ausdrücklich die Auslieferung an die Stätten ihrer Untaten vorsah.

Die restaurative Tendenzwende ab 1947/48 wurde mit der Gründung der Bundesrepublik vorherrschend. Sie prägte personalpolitische Entscheidungen sowie die Vorbereitung des Gesetzes zu Art. 131. Ihr entsprach das am 31. Dezember 1949 in Kraft tretende »Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit«. Es erließ unter Bedingungen (z. B. Schwere des Vergehens und absehbares Strafmaß) Strafen für vor dem 15. September 1949 begangene Straftaten und Ordnungswidrigkeiten und erfasste ein weites Spektrum von Kriminalität vor und nach dem 8. Mai 1945. § 9 erließ »Strafen für Handlungen auf politischer Grundlage«, die nach diesem Stichtag verübt wurden, und § 10 Strafen »zur Verschleierung des Personenstandes aus politischen Gründen«. Norbert Frei schrieb 1996: »Eine befriedigende Abgrenzung der durch das Straffreiheitsgesetz amnestierten NS-Taten von der Masse der Kriminal- und Wirtschaftsdelikte ist nachträglich nicht mehr möglich; ihre Zahl muss deshalb offen bleiben. Zu vermuten ist aber doch, dass Zehntausende von nationalsozialistischen Tätern profitierten.« Das Gesetz erlaubte »in minder schweren Fällen« auch, Körperverletzung mit Todesfolge zu amnestieren: »Deshalb ist nicht auszuschließen, dass es sogar eine Anzahl von NS-Tätern begünstigte, an deren Händen Blut klebte.«

Das Gesetz zu Art. 131 GG erkannte die zwischen 1933 und Mai 1945 erworbenen Qualifikationen, Dienstjahre und -ränge, Einkommensstufen und Pensionsansprüche für alle formell Betroffenen – Politiker, Beamte, Militärs, Angestellte und Arbeiter im Öffentlichen Dienst – nach den seit den zwanziger Jahren geltenden Modalitäten an. Es gab keine Pensions- oder Rentenkürzungen aus politischen oder Gründen individueller Belastung. Allen, die durch Kriegsereignisse und Kriegsfolgen (z. B. Umsiedlung) sowie Entscheidungen der Besatzungsmächte (wie Internierung, Entlassung oder Suspendierung) noch »nicht ihrer früheren Stellung entsprechend« wieder untergekommen waren, wurde ein gesetzlicher Anspruch auf Einstellung und Wiederverwendung zugesprochen. Ausnahmen gab es nur in Einzelfällen, wenn durch Urteile von Spruchkammern oder Gerichten Ansprüche aberkannt worden waren. Das Gesetz legte für Bund, Länder und größere Gemeinden gegenüber diesem Personenkreis eine »Unterbringungspflicht« fest. Die Zahl der »131er« müsse laut § 13 »mindestens zwanzig vom Hundert der Gesamtzahl der Planstellen jedes Dienstherren erreichen.« Vom Bundesinnenministerium ergingen Anordnungen, wonach bei freien Stellen die »131er« vorrangig zu berücksichtigen und die Mindestquote zu sichern seien. Gelegentlich kam es dank solcher Auflagen dazu, dass der Anteil von Nazis bei Behörden oder Einrichtungen höher war als vor 1945.

 

»131er« im Bonner Regierungsapparat

Die Bundestagsfraktion Die Linke hatte am 6. Dezember 2010 die Große Anfrage an die Bundesregierung »Umgang mit der NS-Vergangenheit« eingebracht. (Drucksache 17/4126) Sie enthielt 64, teils untergliederte, Fragen. Die Antwort der Bundesregierung vom 14. Dezember 2011 (Drucksache 17/8134) umfasst 85 Seiten. Fast ein halbes Jahrhundert nach dem »Braunbuch« der DDR wurde der größte Teil der damaligen Angaben erstmals regierungsamtlich – selbstredend unausgesprochen – bestätigt. Punkt 8 fragte, wie viele NS-belastete Personen »nach der Verabschiedung des 131er-Gesetzes 1951 wieder in den öffentlichen Dienst zurückgekehrt« sind und wie sie sich auf Einrichtungen des Bundes verteilten. Bereits 1950 – so hieß es in der Antwort – belief sich durch Rückläufe von einschlägigen Zählkarten die Gesamtzahl aller Betroffenen auf rund 430.000. Darunter befanden sich 76.389 »heimatvertriebene Beamte«, 25.208 »zugewanderte Beamte« aus SBZ und Berlin sowie 55.368 »Beamte, die im Zuge der pol. Säuberung aus ihren Ämtern vertrieben worden waren.« Bis 31. März 1953 seien bei Bund und Ländern 39.000 »131er« eingestellt worden. Zwei Jahre später waren es in der Bundesverwaltung (ohne Post und Bahn) 15.669 Beamte (24,3 % der Planstellen).

Aufschlussreich sind Schwerpunkte der Verteilung der »131er« in Bundesministerien (BM), bei denen die Zwangsquote von 20 % weit überboten wurde: BM für Verteidigung: 77,4 %; BM für Vertriebene: 71,0 %; BM für gesamtdeutsche Fragen: 65,8 %; BM für Wirtschaft: 68,3 %; Presse- und Informationsamt: 58,1 %; Bundespräsidialamt: 55,0 %; BM für Justiz: 48,4 %. Vom damaligen Ministerpräsidenten Kai-Uwe von Hassel (CDU) ist überliefert, er habe stolz berichtet, dass in Schleswig-Holstein die Vorgabe mit weit über 40 % »131er« überboten wurde. Dieses Personal brachte die erwünschten antikommunistischen Grundhaltungen mit, bei denen nur nazistische Floskeln wegzulassen waren. Dabei ist zu ergänzen, dass beispielsweise in der Bundeswehr sowie in Justiz, BKA, BND und Polizei zahlreiche Schwerbelastete in den fünfziger Jahren wieder Führungspositionen erlangen konnten. Bereits 1950 wurde ein ehemaliges NSDAP-Mitglied und Wehrwirtschaftsführer Ministerpräsident (CDU) von Schleswig-Holstein. Wenige Jahre später wurden selbst Ressorts der Bundesregierung wie Inneres und Justiz von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und SA (nunmehr CDU, CSU und FDP) geführt. 1966 avancierte Kurt Georg Kiesinger (CDU), NSDAP seit 1933 und NS-Propagandist, zum Bundeskanzler einer -Großen Koalition.

Das Straffreiheitsgesetz von 1954, die extensiv angelegte Verjährung von Totschlag am 9. Mai 1960 und kalte Amnestien setzten auf bundesdeutsche Art die Vergangenheitsbewältigung fort. Dem Kabinett L. Erhard gehörten acht Bundesminister aus CDU, CSU und FDP an, die Mitglieder der NSDAP, teils auch der SA und SS, und teils seit 1933, waren. Das Gremium beschloss im November1964, zum 9. Mai 1965 alle NS- und Kriegsverbrechen verjähren zu lassen. Dieses Vorhaben scheiterte und war auch später nicht mehr durchsetzbar. Allerdings: Die BRD trat der UNO-Konvention zur Nichtverjährung der Nazi- und Kriegsverbrechen niemals bei. Alles in allem: Die Bundesrepublik war ein Glücksfall für die Täter des Verbrecherstaates. Der Vergleich mit Erfahrungen seit 1990 lässt jene Erkenntnis nur noch drastischer hervortreten.