22. Juni 1940 bis 22. Juni 1941

geschrieben von Manfred Weißbecker

4. Mai 2016

Die Nazis lassen ihren lang gehegten Absichten den »Plan Barbarossa« folgen

Deutschland hatte, wie im Sommer 1941 die Reichsgruppe Industrie frohlockend schrieb, dank der militärischen Erfolge die wirtschaftliche Führung in Europa erlangt. Im Inneren befand sich das faschistische Regime auf dem Höhepunkt seiner Macht. Als »größter Feldherr aller Zeiten« sonnte sich Hitler in trügerischem Glanz bisher errungener Siege.

Wie also weiter mit der »Neuordnung Europas« – zu dieser Frage entbrannten interne Diskussionen und Auseinandersetzungen. Sollte erst Großbritannien bezwungen, Gibraltar erobert und Griechenland besetzt werden, bevor man zum großen Schlag gegen die UdSSR ausholt? Soll ein Zwei-frontenkrieg vermieden werden? Muss die Großmacht USA ins Kalkül gezogen werden? Könnte ein »Ostkrieg« – Fixpunkt aller Vorstellungen über den Weg zur Vorherrschaft in der Welt – auch erfolgreich sein, obgleich im Westen noch nicht alle Ziele erreicht sind? Schritt für Schritt setzte sich in der deutschen Führung der Gedanke durch, Russland sei relativ leicht und rasch zu besiegen. Unmittelbar nach dem Sieg über Frankreich tönte Hitler: »Jetzt haben wir gezeigt, wozu wir fähig sind […] ein Feldzug gegen Russland wäre dagegen nur ein Sandkastenspiel.« Ohne dazu beauftragt zu sein, begann General-stabschef Franz Halder bereits während des Krieges gegen Frankreich mit der Sammlung von Material über die militärische Stärke der Sowjetunion. Und er suchte zuverlässige Offiziere dafür aus, erste Pläne für den Ablauf eines Überfalls zu entwerfen.

Je mehr sich im Herbst des Jahres 1940 herausstellte, dass der Luftkrieg gegen England erfolglos blieb, dass auch die mit dem Codename »Seelöwe« geplante Invasion auf der britischen Insel nicht gewagt werden konnte, desto eindeutiger und einmütiger verfolgten Hitler sowie die militärische Führung das Ziel, im Mai oder Juni 1941 den Krieg im Osten zu beginnen. Nach intensiver Vorbereitung unterschrieb Hitler am 18. Dezember 1940 die »Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa«. In ihr hieß es, es gelte »auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.« Der Wehrmacht wurde befohlen, bis zum Einbruch des Winters eine Linie zu erreichen, die 400 Kilometer östlich von Moskau von Archangelsk am Weißen Meer bis zur Mündung der Wolga am Kaspischen Meer verlief. Dieses Gebiet umfasste den europäischen Teil der Sowjetunion bis zum Ural und zum Kaukasus. Es sollte Bestandteil eines deutschen Ostimperiums werden, das »bevölkerungspolitisch« neu zu ordnen sei.

Maßlose Überbewertung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten ging einher mit einer nahezu irrationalen Unterschätzung der sowjetischen Streitkräfte. In der Vorstellung der Wehrmachtführung galten diese nicht als ernstzunehmende militärische Gegner. Die Rote Armee sei von Stalin zwischen 1936 und 1938 »enthauptet« worden und würde einen »Koloss auf tönernen Füßen« darstellen. Rassistischen Wertungen zufolge handele es sich bei den Russen ohnehin nur um »slawische Untermenschen«, unfähig den kulturell-zivilisatorisch und technisch-organisatorischen Fähigkeiten der arischen Deutschen zu widerstehen.

Von Anfang an war ein gigantischer Raub- und Vernichtungskrieg geplant. Die Wehrmacht sollte sich bereits beim Vormarsch aus dem Land versorgen, um unabhängig vom eigenen Nachschub über die immer ausgedehnteren Transportwege sein zu können. Es hieß, »so viel wie möglich Lebensmittel und Mineralöl für Deutschland zu gewinnen« sei das Hauptziel des Krieges im Osten. Viele Millionen Menschen, auch Kriegsgefangene sollten verhungern. Zugleich sollten, zusammen mit der Wehrmacht, spezielle SS-Kommandos, die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, mörderisch tätig werden. Dazu hatten am 26. März 1941 das Reichsicherheitshauptamt und die Wehrmachtführung vereinbart, Aufgabe der Einsatzgruppen sei die »Erforschung und Bekämpfung der staats- und reichsfeindlichen Bestrebungen« sowie ein sogenannte Sicherstellung von »Emigranten, Saboteuren, Terroristen usw.«.

Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die UdSSR, jenes abenteuerliche, erbarmungslos geführte und in vieler Hinsicht illusionäre antikommunistisch-antirussische Unternehmen, das die NSDAP bereits zwei Jahrzehnte zuvor auf ihre Fahnen geschrieben hatte, unterstützt von großen Teilen der militärischen und wirtschaftlichen Eliten Deutschlands.