Vergessen und verdrängt

geschrieben von Günter Wehner

7. September 2016

Eine Dokumentation der Todesurteile des Berliner Kammergerichts in der NS-Zeit

Im Geleitwort weist die Präsidentin des Kammergerichts a. D., Monika Nöhre, darauf hin, dass die Richter des Kammergerichts stolz auf das älteste in Deutschland arbeitende Gericht sind. Sie spart aber auch nicht die Schattenseiten des Kammergerichts aus, nämlich dessen barbarisches Wirken als Werkzeug des nationalsozialistischen Terrors gegen Andersdenkende.
In seiner Vorbemerkung zu der vorliegenden Dokumentation geht der Autor Prof. Dr. Johannes Tuchel informativ auf das Wirken des Gerichts in den Jahren von 1933 bis 1945 ein. Er hebt hervor, dass relativ wenig Material über die Funktion des Kammergerichts als Terrorinstrument der NS-Diktatur vorliegt. Der Autor betont, dass im Mittelpunkt der vorliegenden Publikation Widerstandskämpfer stehen, die in den Jahren 1943 bis 1945 zum Tode verurteilt wurden.
Knapp aber außerordentlich präzise unterlegt mit den entsprechenden Gesetzesfaksimile schildert Tuchel die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für politische Strafdelikte ab 1934 und verweist darauf, dass in den Jahren 1934 bis 1937 über Tausend vorwiegend Berliner Bürger wegen kommunistischer Betätigung vom Kammergericht verurteilt wurden. Er hebt auch hervor, dass vom Kammergericht viele Bibelforscher (Zeugen Jehovas) und andere religiöse Widerständler hart verurteilt wurden.
Im folgenden Abschnitt »Zuständigkeitsveränderungen und Repressionsverschärfungen« analysiert Tuchel die Verschärfung der NS-Rechtssprechung ab Frühjahr 1943 an Hand umfangreichen Faktenmaterials, das als Faksimile nachgelesen werden kann. Er benennt hier auch die beteiligten Staatsanwälte und Richter des Kammergerichts und betont, dass in Bezug auf diese Personen unbedingt weiter nachgeforscht werden muss.
Der Autor schildert dann, dass in den Jahren vor dem Sommer 1943 keine Belege von Todesurteilen des Kammergerichts vorliegen.
Die bisher bekannten 69 Todesurteile des Kammergerichts unterteilt Tuchel wie folgt: »Vorbereitung zum Hochverrat, Todesurteile wegen Feindbegünstigung, Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung und Todesurteile wegen Landesverrat.«
Die vom Autor analysierten Todesurteile sind akribisch erforscht und mit umfangreichen Fakten- und Bildmaterial der biografierten Widerständler belegt. Die vorliegenden Urteilsbegründungen bezeugen, dass gnadenlos bis zum Kriegsende im Mai 1945 die Widerstehenden ermordet wurden.
Zusammenfassend stellt Johannes Tuchel fest, dass die Todesurteile des Kammergerichts nach 1945 vergessen und verdrängt wurden, dass aber mit der vorliegenden Dokumentation die Funktion des Kammergerichts als Instrument der NS-Diktatur unverkennbar ist und unbedingt weiter zu erforschen ist.
Ein Anhang zu den Todesurteilen und den Vollstreckungsorten nebst der beteiligten Richter und Staatsanwälte sowie ein Quellen- und Literaturhinweis runden die informative Publikation ab, die eine empfindliche Lücke über das repressive Wirken des Kammergerichts in den Jahren von 1943 bis 1945 schließt.

Johannes Tuchel, Die Todesurteile des Kammergerichts 1943 bis 1945. Eine Dokumentation. Berlin, Lukas Verlag. 455 S.