Vom Überleben im Krieg

geschrieben von Raimund Gaebelein

18. November 2016

Ein viel diskutiertes französisches Buch liegt nun auf Deutsch vor

Ein 20-jähriger französischer Mathematik-Student aus Versailles kommt im August 1943 als Zwangsarbeiter nach Bremen. Für ihn ist die Begegnung mit einer Kultur, die ihn interessiert, trotz aller bedrückenden Umstände, eher ein Ausbruch aus familiärer Enge. Es wirkt wie ein Abenteuer, ein Erlebnis. Die Härte des Krieges spürt Pierre, wie sich der Autor in seinen romanhaften Aufzeichnungen nennt, durchaus – Bombenangriffe, Verdunklung, Ausgangssperre. Von der Zwangsarbeit hätte er sich durch Vermittlung seiner Familie freistellen lassen können. Pierre wählt den schwereren Weg, vielleicht auch, um der zerbrochenen Ehe seiner Eltern zu entfliehen. Er geht auch nicht auf das Angebot seines Vorgesetzten bei den Francke-Werken ein, sich leichtere Arbeitsbedingungen als Dolmetscher zu verschaffen. Pierre versucht, seine Sprachkenntnisse zu verheimlichen. Stattdessen unterstellt er sich Willy Suhr, einem Meister mit Naziparteibuch, der aber eher sein Mentor ist.

Yves Bertho, »Ich war Pierre, Peter, Pjotr«, 520 S. Kellner Verlag, Bremen 2016, 18,90 Euro

Yves Bertho, »Ich war Pierre, Peter, Pjotr«, 520 S. Kellner Verlag, Bremen 2016, 18,90 Euro

Pierre kultiviert eine ambivalente Freundschaft zu Robert, der ihn zu seiner Lagerunterkunft und der Arbeitsstelle begleiten soll. Durch Robert lernt er Ingrid kennen, eine deutsche Offiziersgattin, die sich seiner annimmt. Die Ehe mit ihrem Mann an der Balkanfront ist gescheitert. Mit Robert ist er ihretwegen in einer Art Hassliebe verbunden. Die Schattenseiten der Stadt eröffnen sich Pierre durch seine Bekanntschaft mit Madame Blanche, einer Französin, die ihn von der Notwendigkeit von Schwarzmarktgeschäften überzeugen will. Yves Bertho vermittelt uns einen Eindruck in das zivile Leben einer Stadt im Krieg, in den Willen zur Selbstbehauptung trotz aller widrigen Umstände. Robert und Pierre haben vor allem Kontakte zu anderen Zwangsarbeitern, zu den jungen ukrainischen Frauen, die die Unterkunft sauber halten, zu russischen Kollegen in den Francke-Werken, die Flugzeugmotoren reparieren müssen. Schwerstarbeit, vor allem als er als Strafe einen beschädigten Heizkessel auseinandernehmen muss. Aber daneben machen sie Bekanntschaft mit jungen BdM-Mädchen, die gerne mehr vom Leben draußen wüssten.
Auf den ersten Blick erscheint Yves Berthos Roman wie ein abenteuerlicher Ausflug in eine fremde Welt. Er sprüht vor Lebensfreude inmitten von Bombenhagel und erzwungener Schwerstarbeit. Pierre entwickelt eine enge Beziehung zu einer deutschen Offiziersgattin, er verfügt über mehr Geld und Zigaretten als er ausgeben kann. Er geht lächelnd über Strafen und körperlichen Zusammenbruch hinweg. Pierre scheint den Ausbruch aus seinem Elternhaus zu genießen. Er ist kein Kollaborateur, die Zwangslage ist real, in der er sich befindet. Helga Bories-Sawalla weißt in ihrem Nachwort darauf hin, dass der Roman bei seinem Erscheinen 1976 in Frankreich heftige Debatten auslöste. Auf der Höhe der Entschädigungsdebatte Ende der 90er Jahre hatte sie mehrfach heftige Diskussionen bei der Vorstellung des Originalromans im Institut Français. Über das zivile Leben in Bremen 1943/45 hatte ich Gelegenheit immer wieder mit dem niederländischen Zwangsarbeiter Cees Ruijter zu sprechen, der auf der A.G. Weser in Gröpelingen Elektrokarren fuhr. Manche seiner Erfahrungen korrespondieren mit denen Yves Berthos. So beschreibt er die Lebensmittelbeschaffung durch Aufnahme persönlicher Bindungen mit jungen deutschen Frauen. Für Westeuropäer war das durchaus möglich.