Von »unwertem« Leben

geschrieben von Axel Holz

11. Januar 2017

Ein berührender Film über die Nazi-«Euthanasie«

Ernst Lossa gehört zur einer Bevölkerungsgruppe von Fahrenden, die von den Nazis als »Zigeuner« verfolgt wurden. Weil die Mutter tot ist und der Vater keinen festen Wohnsitz hat, wird er als vermeintlich schwer Erziehbarer in verschiedene Heime eingewiesen und schließlich in die Heilanstalt Irsee bei Kaufbeuren verlegt, wo er am 8. August 1944 mit einer Giftspritze ermordet wird. Der Film zeigt nur die sich schließende Tür, hinter der die Krankenhelfer mit der Todesspritze verschwinden und verzichtet auf die Dokumentation des viele Stunden dauernden Sterbens. Der aufgeweckte und schlaue Junge mit einem Hang zum Subversiven gilt den Nazis und auch dem Anstaltsleiter und seinen Helfern als »sozialer Schädling«. Er ist einer von 200.000 Menschen, die im Rahmen der T4-Aktion seit Kriegsbeginn als Psychatriebewohner systematisch ermordet wurden. Die Nazis hatten bis Kriegsbeginn gewartet, um nach der Diskriminierung, systematischen Ausgrenzung und Sterilisierung von Behinderten und Unangepassten deren Ermordung zu organisieren. Nachdem der Mord in sechs eigens dafür eingerichteten Tötungseinrichtungen ruchbar wurde und vor allem aus Kirchenkreisen Protest laut wurde, wurde der auffällige Transport der Behinderten in die Vergasungsanstalten gestoppt und heimlich als »wilde Euthanasie« weitergeführt. Die Patienten wurden nun mit Gift, Medikamentenüberdosierungen oder Nahrungsentzug vor Ort ermordet.

Die Mordpraxis in einer Psychiatrieeinrichtung während der Nazizeit ist Gegenstand des Filmes, in dessen Mittelpunkt ein 13-Jähriger Junge steht.

Die Mordpraxis in einer Psychiatrieeinrichtung während der Nazizeit ist Gegenstand des Filmes, in dessen Mittelpunkt ein 13-Jähriger Junge steht.

Regisseur Kai Wessel verlässt sich in seinem Film auf die Wirkung bewusst gewählter unspektakulärer Bilder des Kameramannes Hagen Bogdanski und die Selbstentlarvungskraft der instrumentalisierten Sprache. Sebastian Koch entfaltet in seiner Idealrolle die Janusköpfigkeit des Anstaltsleiters Dr. Veithausen. Während er sich scheinbar liebevoll um seine ihm anvertrauten Patienten kümmert, erweist er sich hinter verschlossener Tür als gnadenloser Karrierist. Für jeden durchgestrichenen Namen auf der Liste der Heiminsassen geht ein Tötungsauftrag an die Pflegehelfer – die skrupellose Krankenschwester Edith Kiefer (Henriette Confurius) und den humpelnden Pfleger Hechtle (Thomas Schubert). Letzterer bewegt sich zwischen Unterwerfung und verbleibenden Humanitätsimpulsen, die letztlich aber durch in Aussicht gestellte Tötungsprämien mörderisch übergangen werden. Krankenschwester Edith ist von ihrer Tötungsabsicht überzeugt, als sie dem 13-jährigen Lossa ihr Kindheitserlebnis von dem Reh mit den beiden gebrochenen Hinterläufen erzählt, das sie gern geheilt hätte, das aber von ihrem Vater »erlöst« worden sei. Hier blitzt die pervertierte Rhetorik eines unmenschlichen Systems auf, das sich den Anstrich strenger Wissenschaftlichkeit gegeben hatte, während Schwester Edith den auf der Todesliste stehenden Kindern die Giftdosis mit Himbeersaft verabreicht und ihnen damit das Sterben »versüßt«.
Dass in einer Atmosphäre der Ausgrenzung und Diskriminierung auch menschliche Entscheidungen möglich sind, zeigt das Verhalten der Ordensschwester Sophia (Fritzi Haberland). Sie wechselt die Seiten, als sie die Mordpraxis der Anstaltsleitung erkennt, versteckt ein bedrohtes Kind und versucht einen weiteren Mord durch das Verschütten des Giftbechers zu verhindern. Ihre Entscheidung ist umso bemerkenswerter, als ihr die kirchliche Unterstützung versagt bleibt, die sie während einer Audienz beim zuständigen Bischof erwartet. Hinter einer Mauer aus Feigheit und höflicher Diplomatie bleibt sie mit ihrer Gewissensentscheidung allein und zeigt menschliche Haltung. Auf Letzteres läuft es wohl immer hinaus, ob mit oder ohne Nazi-Regime.
Dr. Valentin Faltlhauser, wie der Anstaltsleiter tatsächlich hieß, wurde nach dem Krieg zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, aber 1954 wegen vermeintlicher Haftunfähigkeit begnadigt. Krankenschwester Pauline Kneissler, reale Vorlage der Kiefer-Figur im Film, wurde wegen mehr als 200 nachgewiesenen Tötungen zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach ihrer vorfristigen Entlassung arbeitete sie wieder als Kinderkrankenschwester.
»Nebel im August« ist ein berührender Film über »Euthanasie«, der ohne brutale Szenen auskommt, die konkrete Verstrickung der Täter sichtbar macht und uns zu menschlichen Entscheidungen mahnt.
Axel Holz

»Nebel im August«, 2016, 126min, Regie: Kai Wessel.