Auf dem Weg zum Faschismus

geschrieben von Ulla Jelpke

23. Januar 2017

Der Umbau der Türkei zum autoritären Führerstaat begann schon früher – Von Ulla Jelpke

Vermehrt sprechen Journalisten und Politiker in Westeuropa seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 und dem faktischen Gegenputsch des Erdoğan -Regimes vom Übergang zu einer faschistischen Form der Herrschaft in der Türkei. Dabei handelt es sich allerdings um keine Entwicklung, die von einem Tag auf den anderen zustande kam. Vielmehr ist dieser Prozess jahrelang durch den jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seine religiös-nationalistische Regierungspartei AKP vorbereitet worden.
Entscheidendes Merkmal der Faschisierung der Türkei ist dabei deren dialektische Verschränkung mit der kurdischen Frage. Der traditionelle Kemalismus als Gründungsideologie der Republik, als auch das von den Grauen Wölfen repräsentierte rechtsextreme Lager verteidigen das Bild eines ethnischen Türkentums, das aus Angst vor einer Spaltung der Türkei eine Assimilations-, Verleugnungs- und auch kriegerische Vernichtungspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerung und ihrer politischen Organisierung an den Tag legten.
Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die das Land seit 2002 regiert und sich anfangs vor allem aus den religiös-konservativen Eliten in Mittelanatolien rekrutierte, vertrat demgegenüber zunächst eine andere Agenda. Für sie stand die Umma – die religiöse Gemeinschaft – im Vordergrund und weniger die ethnische Identität. So konnte die AKP zu Beginn als Reformerin erscheinen und auch viele religiöse Kurden ansprechen. Ihr Projekt geht dabei weit über die Grenzen der Türkei hinaus, es dreht sich um eine Vormachtstellung im Mittleren Osten in Anlehnung an neoosmanische Großmachtphantasien. Die erste Strategie der AKP zur Vernichtung der kurdischen Opposition in der Türkei war also eine Art Umarmungsstrategie konservativer Teile der kurdischen Gesellschaft durch kleinere Zugeständnisse im Bereich von Sprache und Kultur sowie eine offene Annäherung an die rechtskonservative Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Präsident Massud Barzani in der Region Kurdistan-Irak.
Allerdings wurde schon bei den Kommunalwahlen 2009 deutlich, dass dieses Konzept nicht griff. Die linke, zur kurdischen Freiheitsbewegung gehörige Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) konnte die von ihr verwalteten Kommunen im kurdischen Osten des Landes verdoppeln. Der türkische Staat reagierte mit extremer Repression – über 9.000 zivile politische Aktivistinnen und Aktivisten, darunter zahlreiche Bürgermeister und Stadträte, wurden im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren unter Terrorvorwürfen inhaftiert.
Parallel dazu begann der türkische Staat, auf faschistische Kräfte wie Milizen der sunnitischen türkischen Hisbollah zurückzugreifen, um eigene parastaatliche Schlägertrupps und Mordkommandos in den kurdischen Gebieten zu haben. So amnestierte Erdoğan im Oktober 2011 die Führung dieser religiös verbrämten Konterguerillaorganisation, die in den 90er Jahren tausende Aktivisten in den kurdischen Gebieten gefoltert und ermordet hatte. Mit dem sogenannten Arabischen Frühling, der in Tunesien und Ägypten die Muslimbrüder an die Macht brachte, erschienen die neoosmanischen Träume der AKP zum Greifen nahe. Erdoğan wurde vom ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi wie ein König empfangen. Die AKP, die selbst aus der Tradition der Muslimbrüder kommt, hoffte, sich als Führungsmacht dieser Strömung im Nahen Osten zu etablieren – eine Rolle, die ihr vorübergehend auch von der NATO zugedacht worden war. Die Türkei hatte nun ein Auge auf Syrien geworfen – gemeinsam mit Ägypten, Saudi Arabien und Katar. Vom Westen geduldet oder sogar unterstützt wurde die Türkei zum wichtigsten Transitland für die aus aller Welt nach Syrien strömenden dschihadistischen Kämpfer. Der türkische Geheimdienst versorgte diese anfangs noch unter dem Dach der Freien Syrischen Armee agierenden doch bald als Al Qaida / Al Nusra und dann als Islamischer Staat offen ihre Agenda zeigenden Terrororganisationen mit Waffenlieferungen, mit Ausbildungslagern im Grenzgebiet und mit eigens eingerichteten Krankenhäusern. Damit verband die türkische Regierung das doppelte Ziel, einerseits den syrischen Präsidenten Bashar al Assad zu stürzen und durch eine sunnitische, protürkische Regierung in Damaskus zu ersetzen und andererseits die Etablierung einer kurdischen Selbstverwaltungsregion in Nordsyrien/Rojava zu verhindern.
Dennoch befanden sich die kurdische Freiheitsbewegung und ihr inhaftierter Repräsentant Abdullah Öcalan ab Ende 2012 in einem intensiven Friedensdialog mit dem türkischen Staat. Abgeordnete der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) fungierten als Vermittler der Friedensgespräche zwischen dem weiterhin auf der Gefängnisinsel Imralı inhaftierten Öcalan, der PKK-Führung in den Bergen und der türkischen Regierung. Offenkundig hoffte die AKP auf einen schmutzigen Deal, wonach die kurdische Seite der von Erdoğan angestrebten Präsidialdiktatur im Gegenzug zu mehr Rechten für die Kurden zustimmen würde. Doch der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, machte deutlich, dass seine Partei ihr Ziel einer Demokratisierung der ganzen Türkei nicht für so einen Handel opfern würde und niemals das Präsidialsystem unterstützen werde. Erdoğan brach daher im März 2015 den Dialog mit der kurdischen Seite ab und erklärte die bis dahin erreichten weitgehenden Vereinbarungen über den weiteren Verlauf des Friedensprozesses für null und nichtig. Solche Vereinbarungen, die Ende Februar von HDP- und Regierungspolitikern gemeinsam im Dolmabahçe-Palast in Istanbul präsentiert wurden, betrafen unter anderem die Gewährung kommunaler Autonomie für die kurdischen Städte.
Im dem darauffolgenden Wahlkampf setzte die AKP auf eine massive nationalistische Kampagne gegen die HDP, die nun als verlängerter Arm von Terroristen und Partei von Gottlosen und Homosexuellen diffamiert wurde. Die massive Unterstützung insbesondere dschihadistischer Gruppen wie des IS hatte seine Rückkopplung in die Türkei und so begann der IS als Terrorgruppe zur Vernichtung der innertürkischen Opposition zu arbeiten. Vor den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 begann eine Kampagne von Terroranschlägen auf Wahlkundgebungen der HDP. Gleichzeitig eskalierte der Staat militärisch und versuchte die Guerilla dazu zu zwingen, ihren seit 2013 ausgerufenen Waffenstillstand noch vor den Wahlen zu beenden.
Dass der Dialog mit der kurdischen Seite von der AKP nur taktisch als Spiel auf Zeit motiviert war, hatte bereits die massive Unterstützung der Türkei für den IS während der Schlacht um die syrisch-kurdische Stad Kobanî im Winter 2014/15 deutlich gemacht. Doch Kobanî konnte gehalten werden und der IS erlitt seine erste große Niederlage. Dieser Kobanî-Effekt und die Nachwehen der landesweiten Gezi-Park-Proteste gegen die autoritäre AKP-Regierung trugen wesentlich zum Wahlerfolg der als breiter Bündnispartei aus Kurden, Aleviten, sozialistischen Vereinigungen, Ökologen, der Frauenbewegung und Gewerkschaftern gebildeten HDP bei. Als erste prokurdische Partei übersprang die HDP mit 13 Prozent die Zehnprozenthürde, während die AKP ihre für eine weitere Alleinregierung notwendige absolute Mehrheit einbüßte. Wutentbrannt erklärte Erdoğan die Wahl für einen durch Neuwahlen zu korrigierenden Fehler. Um die Stimmung für eine erneute AKP-Alleinregierung und ein Präsidialsystem mit ihm als starken Mann zu schaffen, setzte Erdoğan auf eine Strategie der Spannung.
Am 25. Juni 2015 drangen IS-Terroristen unter anderem über den türkischen Grenzübergang in Kobanî ein und ermordeten über 200 Männer, Frauen und Kinder. Am 20. Juli 2015 sprengte sich ein Selbstmordattentäter des IS bei einer Kundgebung in der Grenzstadt Suruc inmitten von zivilen Helfern für Kobanî in die Luft. 34 Menschen, vor allem Jugendliche, starben – 74 wurden zum Teil schwer verletzt. Der Selbstmordattentäter aus einer türkischen IS-Zelle stand unter der Observation des Geheimdienstes. Was folgte war, dass der türkische Staat internationale Unterstützung gegen den »Terror« einforderte. Doch sein Kampf gegen den Terror beschränkte sich auf die Bombardierung der PKK-Hauptquartiers in Kandil und Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung und die radikale Linke in der Türkei, während in Syrien nur bereits geräumte IS-Stellungen beschossen wurden.
Aufgrund der undemokratischen Situation hatten einige kommunale Räte in verschiedenen kurdischen Städten nun selbst die demokratische Autonomie ausgerufen. Der Staat reagierte mit Festnahmen und Repression. Daraufhin begannen Jugendliche vereinzelt Verteidigungsgräben auszuheben, um das Eindringen der Polizei in die selbstverwalteten Stadtviertel zu verhindern – der Staat reagierte nun mit aller militärischer Gewalt und es begann ein Bombardement der Städte.
Am 10. Oktober 2015 rissen zwei Suizidattentäter des IS mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer von der HDP, sozialistischen Parteien und Gewerkschaften durchgeführten Friedenskundgebung in Ankara in den Tod. Die Attentäter gehörten der gleichen unter Geheimdienstaufsicht agierenden Zelle aus Adiyaman an, wie bei vorangegangenen Anschlägen in Suruc und Diyarbakir.
Nach dem Anschlag von Ankara trauten sich viele Menschen nicht mehr, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, die HDP verzichtete auf Wahlkampfveranstaltungen, um ihre Anhänger nicht zu gefährden. So fanden die Wahlen im November 2015 in einem undemokratischen Klima statt und dennoch konnte die HDP erneut die 10%-Hürde überspringen. Doch die Angst-Strategie der AKP war aufgegangen, mit rund 50 Prozent der Stimmen konnte sie eine neue Alleinregierung bilden. Nun folgte eine weitere Verschärfung des Kolonialkrieges in den kurdischen Landesteilen.
Über viele kurdische Städte wurden wochen- und monatelange Ausgangssperren verhängt. Dabei wurde die türkische Verfassung gebrochen – ohne dass dies moniert wurde. Denn es liegt nicht in der Befugnis der Regionalgouverneure eine solche Ausgangssperre zu verhängen. Auch hierin liegt ein Merkmal der Faschisierung, dass das Recht nicht mehr bindend ist. Hunderte Zivilisten – Kinder, Alte und Kranke – wurden von Scharfschützen getötet oder wie in Cizre von Sonderkommandos der Polizei lebendig in Kellern verbrannt. Ganze Wohnviertel in der Altstadt von Diyarbakir, Sur, sowie Städten wie Cizre, Silopi, Şırnak, Nusaybin, Hakkari, Yüksekova und Silvan wurden von der Armee mit Panzern und Artillerie zuerst in Ruinen geschossen und anschließend von schweren Baufahrzeugen dem Erdboden gleichgemacht. Selbst die Menschenrechtsorganisation Amnesty International geht von einer halben Million kurdischen Binnenflüchtlingen aus. Die Regierung ließ die Bewohner der zerstörten Viertel per Dekret enteignen, es gibt Überlegungen, an ihrer Stelle sunnitische syrische Flüchtlinge anzusiedeln. So soll in den Hochburgen der HDP, in denen diese Partei zwischen 60 und über 90 Prozent der Stimmen bekam, die Demographie zugunsten der AKP verändert werden.
In der Westtürkei gab es abgesehen von der HDP und marginalen revolutionär-sozialistischen Organisationen keinen Protest gegen die Kriegsverbrechen in Kurdistan. Bei Anzeichen von Kriegsmüdigkeit unter der Bevölkerung der Westtürkei machte der türkische Staat stets einige wenige der vielen im Kampf mit der Guerilla gefallenen Soldaten öffentlich, um ein nationalistisches Klima weiter anzuschüren. Befördert von Polizei kommt es regelmäßig zu pogromartigen Übergriffen auf Linke, Kurden und die HDP. Zum Einsatz kommen dabei immer wieder die sogenannten »Osmanen-Herde« (Osmanli Ocaklari), eine aus dem Milieu der Grauen Wölfe rekrutierte und in strikter Treue zu Erdoğan stehende religiös-faschistische Schlägertruppe. Gleichzeitig kamen in den kurdischen Landesteilen neben den regulären Armee- und Polizeieinheiten Sondereinheiten mit Söldnern zum Einsatz, die sich aus Grauen Wölfen und zum Teil ausländischen Dschihadisten rekrutieren. Ein Großteil der Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung wird diesen teilweise sogar im Outfit des IS agierenden Kräften zugeschrieben.
Im Mai 2016 unterstützten die mit der AKP in einer inoffiziellen Kriegsregierung stehendende faschistische Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) und ein Teil der kemalistischen Republikanischen Volkspartei den Antrag der Regierung, Abgeordneten die Immunität zu entziehen, wenn gegen sie Strafverfahren laufen. Der Immunitätsentzug traf zwar Abgeordnete aller Fraktionen, doch er zielte auf die HDP, denn fast alle ihrer Abgeordneten hatten, aufgrund ihrer parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktivitäten, zahlreiche Anzeigen wegen Terrorunterstützung laufen. Dabei wurde bereits die im Parteiprogramm verankerte Forderung nach kommunaler Selbstverwaltung und regionaler Autonomie als solche gewertet.
Parallel zum Vorgehen gegen die kurdische Bewegung verschärfte sich der Druck auf die oppositionelle Presse. Zeitungen und Sender, die zum Imperium von Erdoğans langjährigem Verbündeten und nunmehr zum Staatsfeind Nummer 1 ernannten Fethullah Gülen gehörten, wurden staatlichen Zwangsverwaltern unterstellt und dann geschlossen. Der Chefredakteur der renommierten liberalen Tageszeitung Cumhurriyet, Can Dündar, wurde wegen seiner Enthüllungen über türkische Waffenlieferungen an syrische Terrororganisationen zu einer Haftstrafe verurteilt und von Faschisten mit dem Tod bedroht, so dass er ins Ausland floh.
Die türkische Unterstützung für den IS-Angriff auf Kobanî im Winter 2014, die Aufkündigung des zwischen Öcalan und der Regierung ausgehandelten Dolmabahçe-Abkommens im März 2015, das für ungültig erklärte Wahlergebnis vom Juni 2015, der Krieg gegen die kurdischen Städte und die Aufhebung der Abgeordnetenimmunitäten im Mai 2016 müssen als Etappen einer zunehmenden Faschisierung der türkischen Politik gewertet werden, die mit dem 15. Juli 2016 eine neue bis dahin unbekannte Qualität annahm.

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Partei DieLinke im Bundestag

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Partei DieLinke im Bundestag

Durch die Verhängung des Ausnahmezustandes nach dem Putsch kann Erdoğan seitdem am Parlament vorbei per Dekret regieren. Auf diese Weise wurden die Bürgermeister von Dutzenden kurdischen Städten und Gemeinden für abgesetzt erklärt, unter Terrorvorwürfen inhaftiert und durch staatliche Treuhänder ersetzt. Damit ist der offene Kolonialismus in die kurdischen Siedlungsgebiete der Türkei zurückgekehrt. Im Staatsapparat, in Justiz, Militär und Polizei sowie im Bildungssektor finden seit dem Putschversuch massive Säuberungen und Massenverhaftungen statt, die nicht nur mutmaßliche Anhänger des Gülen-Netzwerkes sondern zunehmend jegliche Opponenten Erdoğans betreffen. Als Beweis einer Gülen-Anhängerschaft konnte schon ein Konto bei einer Gülen-nahen Bank oder der Schulbesuch der eigenen Kinder auf einer Privatschule der Gülen-Bewegung gelten. Es fanden mehr als 100.000 Festnahmen, eine Säuberung von und vor allem auch im Bildungssektor, statt. Alle Regionen der Türkei waren betroffen, aber wieder insbesondere Kurdistan. In den kurdischen Landesteilen wurden zehntausende Lehrer, insbesondere Mitglieder der linken Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen, entlassen. Bildung ist so quasi nicht mehr möglich. Wie die verbliebenen oder neueingesetzten Erdoğan-getreuen Lehrer ihren Unterricht abhalten, verdeutlicht das Bild eines Lehrers, der Grundschüler mit Galgenschlingen in den Händen für die Einführung der Todesstrafe demonstrieren ließ.
Die meisten verbliebenen Oppositionsmedien, sowohl aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung als auch Dutzende prokurdische Zeitungen und Sender, wurden per Dekret ebenso verboten wie hunderte zivilgesellschaftliche Vereinigungen – darunter kurdische Kulturzentren, Frauenvereinigungen, fortschrittliche Anwaltsvereinigungen, Hilfsvereinigungen für politische Gefangene und humanitäre Unterstützungsverbände für Binnenflüchtlinge aus den zerstörten Städten. Rund 6000 HDP-Politiker wurden seit Juli 2016 inhaftiert, darunter die beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ und mindestens zehn weitere Parlamentsabgeordnete sowie über 50 Bürgermeister.
Um seine derzeit nur durch den Ausnahmezustand bestehenden Sondervollmachten dauerhaft abzusichern, strebt Erdoğan eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems an. Der Posten des Ministerpräsidenten soll darin ebenso abgeschafft werden wie das Kabinett. Der Präsident soll per Dekret regieren können, seine Stellvertreter und Minister sowie hohe Behördenvertreter und die Hälfte der obersten Justizaufsichtsbehörde direkt ernennen und das Parlament auflösen können. Da die nötige parlamentarische Mehrheit für das Präsidialsystem selbst mit den Stimmen von AKP und MHP bei strikter Ablehnung durch HDP und CHP fehlt, soll es stattdessen in einem für Frühjahr nächsten Jahres angekündigten Referendum von der Bevölkerung direkt beschlossen werden. Die Unterstützung der MHP dafür sichert sich die AKP durch die Zusage, auch die Todesstrafe einschließlich einer möglichen Hinrichtung von Abdullah Öcalan auf die Agenda zu bringen.

Parallelen zum italienischen Faschismus
Erdoğan will nach eigenem Bekenntnis in seinem Präsidialsystem nach dem Vorbild des Hitler-Faschismus agieren. Während einerseits sicherlich Vergleiche insbesondere in der Phase der Macht-übertragung naheliegend sind, liegt der italienische Faschismus historisch dem, was wir derzeit in der Türkei erleben, näher. Erdoğans Schwarzhemden sind die in den letzten Jahren, in den zunehmend islamisierten Schulen des Landes erzogenen, Hunderttausende von fanatischen jungen Männern, die jederzeit bereit sind, für ihn Blut zu vergießen. Diese Kräfte waren es, die als Lynchmobs am Abend des 15. Juli 2016 junge Wehrpflichtige und vermeintliche Putschisten folterten und nach Art des IS mit Messern ermordeten.
Erdoğan greift immer wieder, ähnlich wie Mussolini, auf die Mobilisierung solcher Mobs zurück und regiert immer wieder scheinbar auf »Wunsch des Volkes« – er will als »Volkstribun« die Todesstrafe durchsetzen, natürlich will er auch als »Vollstrecker des Volkswillens« durch ein Präsidialsystem regieren. So, wie sich Mussolini auf das Imperium Romanum bezog, ist Erdoğans Bezugspunkt die Restaurierung des Osmanischen Reiches. Großprojekte wie Erdoğans eigener 1000-Zimmer-Palast oder Tunnel unter und Brücken über den Bosporus, neue Flughäfen und Staudämme stellen Erdoğans ökonomisches Projekt dar. Und wie Führer anderer faschistische Bewegungen hat auch Erdoğan begriffen, dass Macht auf Kontrolle der Medien basiert. So kann der zu vollstreckende »Volkswille« entsprechend manipuliert werden. Kontrolle über Justiz, Militär und Polizei sind dabei ebenfalls bedeutend.
Mussolini deutete seine Niederlagen 1923 auf Korfu in große Siege um – ähnlich handelt Erdoğan mit seinem in Wahrheit hochgradig erfolglosen Vorgehen gegen die PKK-Guerilla und die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Nordsyrien. Doch die Versionen der AKP setzen sich durch, denn etwas anderes zu berichten, wird zum Staatsverbrechen und als Unterstützung des Terrorismus ausgelegt, wie wir es aus vielen Verfahren gegen Journalistinnen und Journalisten in der Türkei kennen.
Mussolinis Katholizismus ist Erdoğans politischer Islam – beide praktizieren eine frauenfeindliche, religiös konservative Politik. Erst neulich wurde dies im allerdings durch massiven Protest selbst aus AKP-nahen Frauenverbänden gestoppten Gesetzentwurf für eine Straflosigkeit im Falle der Vergewaltigung Minderjähriger bei anschließender Heirat deutlich.
Es gibt viele Parallelen zum historischen Faschismus, allerdings fehlt der Kampf einer geeinten Volksfront dagegen. Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP ist damit beschäftigt, sich ihrem Henker anzudienen und ihrerseits willfährig jeden Akt des militanten antifaschistischen Widerstands als Terrorismus zu diffamieren. Die Masse der jungen Liberalen und Säkularen in den westtürkischen Großstädten, die im Sommer 2013 bei den Gezi-Park-Protesten dem Erdoğan-Regime die Stirn boten, sind heute eingeschüchtert. Proteste auf der Straße sind aufgrund der Polizeigewalt aber auch aus Angst vor Anschlägen kaum noch möglich. Und schon die kleinste öffentliche Kritik an der Regierungspolitik kann zum Verlust des Arbeitsplatzes, einem Strafverfahren, einer Inhaftierung und Folter führen. Einzige noch begrenzt handlungsfähige Oppositionskraft sind so die unter schwerer Repression leidende kurdische Freiheitsbewegung und die in ihrem Umfeld agierenden, jedoch schwachen sozialistischen Kräfte.
Die Türkei erlebt derzeit allerdings eine schwere Wirtschaftskrise. Erdoğan rief bereits dazu auf, gebunkerte Spargroschen in ausländischer Währung und Gold zu verkaufen, was den Ernst der Situation verdeutlicht. Ein Großteil des Erfolges der AKP basiert auf dem bereits im Parteinamen genannten Versprechen des permanenten ökonomischen Aufschwungs. Bleibt dieser spürbar aus, wird es auch zu Brüchen unter den 50 Prozent der mehrheitlich sunnitisch-konservativ-nationalistischen Türken kommen, die bislang fest hinter Erdoğan standen. Dass Erdoğans zunehmend auch in außenpolitische Isolation geratenes Projekt eines persönlichen Sultanats von langer Dauer sein wird, ist damit noch keinesfalls ausgemacht.

 

Erdoğan war im Vorfeld des Putsches, hinter dem wohl seine einstigen Verbündeten von der religiös-nationalistischen Gülen-Bewegung aber auch andere unzufriedene Kreise im Militär standen, von den Umsturzabsichten informiert. Entsprechende Gegenmaßnahmen gegen den von Erdoğan nicht umsonst als »Geschenk Gottes« titulierten Putsch konnten so von langer Hand vorbereitet werden.

Um die nötigen gesellschaftlichen Mehrheiten für den Umbau des Landes in eine auch durch die Verfassung abgesicherte Präsidialdiktatur zu sichern, setzt Erdoğan auf die Mobilisierung nationalistisch-chauvinistischer Gefühle und suggeriert, die Türkei befände sich in einem nationalen Befreiungskampf gegen den westlichen Imperialismus und von diesem unterstützten Terrorismus. Nach dem Anschlag einer von der PKK abgespaltenen Stadtguerillagruppe gegen Polizisten in Istanbul rief Erdoğan im Dezember 2016 eine »Nationale Mobilmachung« gegen Terrorismus aus. Nach einem neuerlichen Anschlag auf eine für ihre Kriegsverbrechen berüchtigte Kommandoeinheit der Armee in Kayseri überfielen Graue Wölfe und Islamisten erneut landesweit HDP-Büros und linke Vereinigungen und setzten deren Räume in Brand.