Den Überlebenswegen gefolgt

geschrieben von Markus Tervooren

14. März 2017

Der Dokumentarfilm »Wir sind Juden aus Breslau«

Einer der Protagonisten des Dokumentarfilms »Wir sind Juden aus Breslau«, Fritz Stern, der große amerikanische Historiker, ist Mitte letzten Jahres gestorben. Das beschreibt vielleicht die Dringlichkeit, die diesen Film durchzieht, letzte Selbstzeugnisse der Überlebenden des Holocaust festzuhalten, Wege zu suchen, sie an junge Leute weiterzugeben, Spuren des Terrors der Nazis, über die die Zeit hinweggeht ,die verlorengehen, zu sichern.
Der Film der beiden Berliner Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies zeigt die Begegnung deutscher und polnischer Schüler mit vier von 14 jüdischen ehemaligen Breslauern, die den Holocaust überlebt haben und deren Lebenswege der Film vorzustellen versucht.
Es ist sehr anrührend, wie sich die alten und jungen Teilnehmer umeinander bemühen. Zusammen laufen sie durch das Breslau der »Alten« – damals waren sie Kinder und Jugendliche –, durch die Straßen, in denen sie einst wohnten, die Schule, die Esther Adler besuchte. Sie besuchen die erst kürzlich wieder hergestellte Synagoge zum Weißen Storch, besuchen das Gefängnis, in das die Nazis die Schwestern Anita Lasker und Renate Lasker nach einem Fluchtversuch und vor ihrer Deportation nach Auschwitz eingesperrt hatten. Abraham Ascher betritt mit den Schülerinnen den Balkon des Hotels Monopol, von dem vor 80 Jahren Hitler zu den jubelnden Breslauern sprach, unter ihnen, unerwünscht aber neugierig, der kleine Junge von damals.
Sind diese Jugendlichen die künftigen Zeuginnen und Zeugen der Zeitzeugen? Ich habe mich auch gefragt, ob sich Anita Lasker-Wallfisch, Esther Adler, Prof. Abraham Ascher und Wolfgang Nossen den Jugendlichen auf eine noch ganz andere Weise offenbart und geöffnet haben als den Filmemacherinnen; eine Szene, in der sich eine alte Frau und eine junge Frau gegenübersitzen, ansehen, an den Händen halten und unterhalten, legt das nahe, ebenso der Ausspruch einer Schülerin: »Wir haben ihre Lebensgeschichten erfahren. Jetzt sind wir verpflichtet, sie weiterzugeben.«
Zu den stärksten Bildern des Films zählen die schweigenden, frontal aufgenommenen Porträtsequenzen der 14 ehemaligen Breslauer. Sie sind Ausgangspunkt zu den Überlebenswegen, die nach Frankreich, England, in die USA, in einem Fall nach Erfurt und immer wieder nach Israel führen. Zwischenstationen sind Auschwitz und Bergen Belsen, aber auch die Schiffe der Haganah nach Palästina. Die Filmemacher haben die heutigen Wohnorte besucht, Interviews und kleine Momentaufnahmen aus dem jetzigen Leben der »Überlebenden« aufgenommen. Das ist das Interessanteste in diesem Film. Und das macht ihn als »Heimatfilm« konsequent ungenießbar. Vielleicht stellvertretend für alle stellt Anita Lasker-Wallfisch fest: »Nach der Befreiung in Bergen-Belsen war die Rückkehr nach Breslau unmöglich geworden. Alle waren tot, die Heimat verloren.«
Karin Kaper und Dirk Szuszies erlauben es sich zu staunen, das ist sympathisch. Sie fragen und haken nach, das ist gut. Die Interviewten sind oft sehr sprachgewaltig, einige sind Historiker, Intellektuelle: Der New Yorker Historiker Abraham Ascher verfasste erst vor wenigen Jahren eine Pionierstudie zu der Geschichte der Breslauer Juden, Anita Lasker-Wallfisch sprach wenige Tage nach ihrer Befreiung in Bergen-Belsen einen der ersten Berichte für das britische Radio – sie sind gewohnt zu sprechen. Andere sind stiller, verstummen immer wieder, ihnen ist die Qual und Trauer über Erlittenes deutlich anzumerken.
Einige Male habe ich auf »bessere«, vielleicht kenntnisreichere Fragen gewartet. Ist das ungerechtfertigt? Die Interviews sind von allen Interviewten gegengelesen worden, erzählt Dirk Szuszies bei einer Vorführung im Regenbogen-Kino in Berlin Kreuzberg. Nicht alle Fragen wurden beantwortet, mit einigen wird Mensch wärmer, andere sind zurückhaltender. Es ist im Film auch sehr spürbar, wie unterschiedlich die persönliche(n) Geschichte(n) von den Porträtierten »bearbeitet« wurden.
Das führt zurück zu der Dringlichkeit, die den Film gezwungenermaßen durchzieht. Die betagten und letzten Zeitzeuginnen werden bald sterben, nicht gestellte Fragen können nicht mehr gestellt werden. Auch das wird beim Anschauen des Films klar. Darüber hinaus fehlt einer kleinen unabhängigen Produktion Zeit und Geld. Es bleibt das Gefühl, mehr erfahren zu wollen, und dass noch vieles fehlt. Dirk Szuszies hat angekündigt, dass im Herbst weiteres Interviewmaterial veröffentlicht wird. Darauf bin ich sehr gespannt.
Im Übrigen ist es dem Film anzumerken, dass sich die Filmemacher dem Staat Israel, dem Staat der Überlebenden des Holocaust, in dem viele der Porträtierten heute leben, auf eine für sie neue Art annähern. Das hat Dirk Szuszies im Filmgespräch auch bestätigt.
Fazit: Ein wichtiger Film, teilweise ein schöner Film, manchmal ein ärgerlicher Film, eher »work in progress« als fertiggestellt. Reingehen, angucken, die Filmemacherinnen einladen und diskutieren.

 

Wir sind Juden aus Breslau, Deutschland 2016, Regie: Karin Kaper und Dirk Szuszies, 107 Minuten
Karin Kaper Film GbR, Naunynstr.41a, 10999 Berlin
Tel: +49 30 61 50 77 22,
Mail: kaperkarin@web.de,
www.judenausbreslaufilm.de