Wie Statisten Henker wurden

geschrieben von Ernst Antoni

12. Juli 2017

Alfred Hrdlickas großer 20.Juli-Bilder-Zyklus in München

Der unmittelbare »Lokalbezug« stellt sich beim Betrachten des Blattes 28 aus dem Radierungs-Zyklus »Wie ein Totentanz« her, den der österreichische Bildhauer und Grafiker Alfred Hrdlicka 1974 zum Thema 20. Juli 1944 geschaffen hat. Nicht als »Heldenehrung« gedacht, seien diese Bilder, »bei allem Respekt für jene Männer, die es wagten, sich gegen ein barbarisches Regime zu erheben«, vielmehr, hielt der Künstler fest, sollen sie eine »Warnung vor falschen Leitbildern« beinhalten.

Die 53teilige Bildfolge ist seit einigen Wochen nun erstmals vollständig in der ehemaligen Nazi-»Hauptstadt-der-Bewegung« zu sehen, im NS-Dokumentationszentrum in München.

Chile 1974, 505 x 5698 mm, Ätzung, Kaltnadel, Mezzotinto geschabt und Stichel auf Kupfer. Leihgeber der Zyklus-Bilder: Museum Morsbroich Leverkusen

Chile 1974, 505 x 5698 mm, Ätzung, Kaltnadel, Mezzotinto geschabt und Stichel auf Kupfer.
Leihgeber der Zyklus-Bilder: Museum Morsbroich Leverkusen

Das Blatt 28 (500 x 651 mm, Aquatinta geschabt, Kaltnadel und Wiegemesser auf Kupfer) trägt den Titel »Vom Todeskult zur Todesfabrik«. Wie viele der Exponate ist es ein sehr dunkles Bild, das nahes Herangehen erfordert. Links unten sehen wir Menschen vor einem Krematoriumsofen, am rechten Bildrand eine Soldatenfigur mit Stahlhelm und darüber eine rauchende »Opferschale«.

Winfried Nerdinger, Direktor des Dokumentationszentrums, schreibt im Katalog: »Das Blatt (…) bezieht sich auf den Königsplatz, den Ort, an dem in der NS-Zeit der ›Totenkult‹ der Nationalsozialisten zelebriert wurde, und der heute im benachbarten NS-Dokumentationszentrum München an zentraler Stelle erläutert wird. Auf dem Königsplatz fand alljährlich am 9. November ein pseudoreligiöses Ritual statt, bei dem die Namen der beim Putschversuch 1923 erschossenen sogenannten ›Blutzeugen‹ und ›Märtyrer‹ aufgerufen wurden, worauf die aufmarschierte Menge wie beim Appell ›Hier‹ brüllte. Diese Einübung in das Sterben für Hitler wird bei Hrdlicka parallelisiert mit den ›Todesfabriken‹ und er zeigt den Zusammenhang zwischen NS-Ideologie und rassistischer Volksgemeinschaft, sowie die Folgen auf: ›(…) aus den Statisten der Weihefestspiele waren Henker geworden‹.«

Das vollständige Hrdlicka-Zitat hängt beim ausgestellten Bild – und dieses Prinzip, die jeweiligen Einzelkommentare des Künstlers all seinen Blättern beizugeben, macht die Ausstellung besonders aufschlussreich. Hat Alfred Hrdlicka (1928–2009) doch, als er in den 70er-Jahren den Zyklus schuf, damit einen ganz großen Bogen gespannt. Beginnend beim Preußen Friedrichs des Großen und schließlich mit dem Blatt »Chile 1974« den Zyklus beendend. Manchmal sind die Anmerkungen des Künstlers sehr eigenwillig, ebenso wie die Auswahl der jeweiligen Radierungs-Themen, und zeugen, trotz der realistisch-unverstellt wiedergegebenen Gewaltakte, oft von der ironischen Distanz, die der Künstler ebenfalls einzusetzen verstand (Blatt 1 etwa, Aquatinta geschabt: »Casanova am Hof Friedrichs des Großen«). »1746«, heißt es im ersten Satz dazu, »besuchte der Erzzivilist Casanova den modernsten Militärstaat Europas, Preußen,…«

»Militarismus«, so formulierte es Winfried Nerdinger bei einer Führung durch die Ausstellung, sei für Hrdlicka »das Entscheidende, aus dem der Nationalsozialismus nur zu erklären ist.« Vor diesem Hintergrund gewinnen die Kommentartexte aus Künstlerhand noch einmal an Tiefe – und oft fällt einem beim Betrachten und Lesen etwas auf, was einem längst entfallen war. Beispiel »Chile 1974«: »Dreißig Jahre nach dem 20. Juli 1944«, schreibt Hrdlicka, »erregt die Anwesenheit eines Zivilisten in einer Militärdiktatur das Interesse der internationalen Presse. Es ist der als Kriegsverbrecher gesuchte ehemalige SS-Offizier Walter Rauff. In einer offiziellen Aussendung wird Rauff als Mitarbeiter der Geheimdienstabteilung DINA genannt. Diplomatische Vertreter Chiles dementieren, die Junta habe die Hilfe ausländischer Spezialisten nicht nötig, der ehemalige Einsatzleiter der Vergasungswagen und Kommandant deutscher Konzentrationslager (…) sei weiter nichts als Privat- und Geschäftsmann – Zivilist!«

Die Ausstellung ist bis 27. August zu sehen. Das NS-Dokumentationszentrum München, Brienner Straße 34, ist dienstags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Der Besuch der Sonderausstellung ist im Eintrittspreis von 5 Euro inbegriffen (ermäßigt 2,50 Euro, bis 18 Jahre frei). Außerdem gibt es ein Begleitprogramm: Details und Termine sind auf www.ns-dokuzentrum-muenchen.de zu finden.