Briefe aus der Haft
19. Juli 2017
Ermordet 1934: Ludwig Marum, Reichstagsabgeordneter der SPD
Am 23. Mai 2017 hatten sich zahlreiche Besucher in der »Anna-Seghers-Gedenkstätte« in Berlin Adlershof eingefunden. Der Ort war gut gewählt. Die Herausgeberin des zu präsentierenden Bandes: »Ludwig Marum: Das letzte Jahr in Briefen«, Andrée Fischer-Marum, verbindet einiges mit der renommierten Schriftstellerin. So wie Anna Seghers, emigrierte die 1941 in Paris Geborene mit ihrer Familie von Marseille aus nach Mexiko. 1947 kehrten die Marums ebenso wie die Literatin in das Nachkriegsdeutschland zurück.
Die Enkelin Andrée las in den historischen Räumlichkeiten aus der Korrespondenz ihres Großvaters Ludwig mit seiner Frau Johanna. Ludwig Marum, geboren 1882, war Rechtsanwalt in Karlsruhe, Vater von drei Kindern und seit 1904 Mitglied der SPD. Am 2. April 1919 wählte ihn die badische Nationalversammlung zum Staatsrat. Seit 1928 Mitglied des Reichtages wurde er nach der Machtübertragung an die Faschisten wie Tausende Regimegegner verfolgt. Denn er war am 5. März 1933 wieder in das Parlament gewählt worden. Vom 10. März 1933 bis zum 16. Mai 1933 saß er als Häftling im Karlsruher Bezirksgefängnis, danach und bis zu seiner heimtückischen Ermordung am 29. März 1934 im badischen Konzentrationslager Kislau. Dem Sozialdemokraten Ludwig Marum wird noch heute in Karlsruhe ehrenvoll gedacht. Die SPD Karlsruhe vergibt jährlich den Ludwig-Marum-Preis an Menschen und Gruppen, die im Sinne Ludwig Marums eintreten und das Ludwig Marum Gymnasium in Berghausen fördert Jugendliche, die sich mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte auseinandersetzen. Seine Biographie wurde in verschiedenen Veröffentlichungen dargestellt. 1984 edierte seine Tochter Elisabeth Marum-Lunau erstmals die in New York überlieferten Briefe des Vaters aus der Haft. Was veranlasste seine Enkeltochter Andrée, nach über 30 Jahren, eine Neuausgabe der Hinterlassenschaft ihrer Familie bekannt zu machen? Zu ihren Beweggründen schrieb sie im Nachwort der Publikation: »Nicht veröffentlicht waren die Briefe von Johanna. Aber das Ehepaar Marum korrespondierte so oft es möglich war. Es gingen Briefe und kleine Zettel zwischen ihnen hin und her. Als ich im Nachlass meiner Eltern mit den Kopien der Briefe des Großvaters auch die Briefe seiner Frau fand, war ich tief berührt von der großen Liebe, der großen Partnerschaft ihres gemeinsamen Lebens, die sich in ihnen äußert, zugleich auch von ihrer Kraft.« Der Briefwechsel des Ehepaares ist nicht vollständig erhalten. Die Nachrichten von Johanna an ihren Mann enden im Mai 1933. Der Herausgeberin Andrée Fischer–Marum ist es zu danken, durch die notwendigen Ergänzungen das Bild über den Großvater, eines standhaften Demokraten, eines verfolgten Deutschen jüdischer Herkunft vervollkommnet zu haben. Deutlicher wird dem Leser, dass die innige Beziehung zu seiner Frau, die er 1910 geheiratet hatte, und zu seinen Kindern ihm die Kraft gab, die Demütigungen und Qualen der Haft auszuhalten. So schrieb er am 2. Mai 1933 aus dem Gefängnis zu Johannas 53. Geburtstag: »Aber ich könnte mir ein Leben ohne Dich nicht vorstellen. Du weißt und duldest, dass ich neben Dir als Geliebte die Politik habe. Das danke ich Dir gerade heute, wo Du für diese Nebenbuhlerin so schwere Opfer bringen musst.« Im letzten überlieferten Schreiben Johannas an ihren Mann, das sie zwei Tage vor seiner Überführung in das Konzentrationslager verfasste, versicherte sie ihm: »Ich gebe mir Mühe, so tapfer zu sein, wie Du mich haben möchtest.« Sie setzte mutig eine Todesanzeige in die Badische Presse und gab den Termin der Einäscherung bekannt. Trotz der antisemitischen Hetze der Nazis fanden sich zur Trauerfeier am 3. April 1934 über 3 000 Menschen ein, um Abschied von Ludwig Marum zu nehmen. Die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Menschen und die Ermordung ihres Ehemannes veranlassten Johanna gemeinsam mit ihrer Tochter Eva Brigitte, Deutschland zu verlassen und nach Paris zu fliehen, wo sich Sohn Hans seit April 1933 aufhielt. 1939 erst in französischen Lagern interniert, dann freigelassen, wanderte sie mit der ältesten Tochter Elisabeth, die seit 1936 in Frankreich lebte, in die USA aus. Eva Brigitte schloss sich der Mutter und Schwester wegen der bevorstehenden Geburt ihres Sohnes nicht an. Im Januar 1943 kam sie nach ihrer Verhaftung während einer Razzia in Marseille in das Vernichtungslager Sobibor, wo sie ermordet wurde. Auch Hans saß in einem Internierungslager, bevor er 1942 mit seiner Frau, dem Sohn Ludwig und seiner Tochter Andrée nach Mexiko emigrieren konnte. Johanna ging 1945 zu ihrem Sohn nach Mexiko und lebte bis zu ihrem Tode 1964 in seiner Familie in Berlin.
Die über 130 abgedruckten schriftlichen zeitgenössischen Zeugnisse beschreiben auf erschütternde und beeindruckende Weise die Brutalität des faschistischen Terrors in der Anfangsphase der Naziherrschaft und die unmittelbaren Auswirkungen auf die Betroffenen und ihre Familien, aber auch und vor allem die Standhaftigkeit von Menschen, die sich dem Regime nicht beugten. Der Anhang enthält über 30 Dokumente, die die politische Situation jener Zeit regional und reichsweit widerspiegeln.