Nachhilfe in Sachen Leitkultur

geschrieben von Regina Girod

18. Oktober 2017

»Leitkultur« ist ein deutscher Kampfbegriff, nicht nur in Wahlkampfzeiten. Er dient dazu, einen starren Katalog von Werten, Normen und Bräuchen festzuschreiben, die »deutsch« sind und deshalb von allen einzuhalten, speziell natürlich jenen, die aus anderen Kulturen eingewandert sind. Letztlich geht es um Macht, die man meint, gegen drohende »Überfremdung« verteidigen zu müssen. Leitkultur in Gesetzesform – das ist das Bayerische Integrationsgesetz. Politisch eine Zumutung ist es außerdem eine große Peinlichkeit, denn es beweist, bayerische Beamte stecken immer noch in der schwarzen Pädagogik fest. Sie scheinen nie gehört zu haben, was Soziologen, Pädagogen oder Psychologen in den letzten hundert Jahren über Wertbildungsprozesse und die Übernahme von Normen herausgefunden haben. Ganz zu schweigen davon, was Kultur eigentlich ist. Da hilft nur ein Fortbildungsprogramm!

So halten Soziologen, die sich mit Migration beschäftigen, nicht nur schlechte Nachrichten für Verfechter der Leitkultur bereit. Eine gute könnte sein, dass der Prozess der Übernahme neuer Normen in der Regel drei Generationen betrifft und dann abgeschlossen ist. Doch untrennbar damit ist auch die schlechte verbunden. In der Lebensspanne dreier Generationen verändert sich nämlich auch die Kultur! Wer könnte und wollte heute noch nach den Werten und Normen unserer Großeltern leben? Am schlimmsten aber dürfte für Leitkulturvertreter die Erkenntnis sein, dass in diesen kulturellen Änderungsprozess die Erfahrungen, Praktiken und Regeln aller einfließen, die in der Gesellschaft leben – also auch der Eingewanderten. Zum Glück ist dieser Wandel stetig, so dass man ihn nicht unbedingt bemerken muss, vielleicht am ehesten noch als Außenstehender.

Der iranische Autor Bahman Nirumand lebt seit mehr als 60 Jahren in der BRD. In seiner Autobiographie beschreibt er unter anderem, wie sich Deutschland aus seiner Sicht durch die Zuwanderung aus dem Orient verändert hat. Seine heitere und lebenskluge Sicht könnte durchaus Pflichtlektüre für Beamte werden, denn Lesen öffnet den Horizont.