Der bittere Kern des Kasseler Urteils

geschrieben von Peter C. Walther

19. November 2017

Als hätte der Verfassungsschutz es selbst geschrieben

Am 19. September 2017 hat das Verwaltungsgericht Kassel die Klage von Silvia Gingold gegen den hessischen Verfassungsschutz abgewiesen, mit der sie die Löschung der über sie gesammelten Daten und die Beendigung der geheimdienstlichen Überwachung und Bespitzelung und der damit verbundenen Diffamierung als Verfassungsfeind forderte. Am 5. Oktober 2017 lieferte das Gericht die schriftliche Begründung des Urteils. Wir dokumentieren in diesem Spezial daraus diese Auszüge:

Über mehrere Seiten hinweg übernimmt das Gericht die ebenso dubiosen wie dummdreisten Behauptungen des Verfassungsschutzamtes – und macht sie damit zu einer Grundlage seines Urteils.

Bei näherer Betrachtung werden erschreckende Formulierungen deutlich. Da wird behauptet, die VVN-BdA werde »zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet, da sie sich dem orthodox-kommunistischen Antifaschismus verpflichtet fühle und das Ziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft verfolge«. Das ist ganz und gar erfunden. Die VVN-BdA ist keine sozialistische Organisation und verficht keine sozialistischen Ziele, obwohl auch dies nicht verfassungswidrig wäre.

Vor kurzem wurde die These vom »orthodox-kommunistischen Antifaschismus« vom Verfassungsschutz noch mit dem Text des Schwurs von Buchenwald begründet. Das hat man nunmehr unterlassen, weil man vermutlich gemerkt hat, wie sehr sich dieser Angriff gegen den gesamten europäischen Antifaschismus richtet.

Nichtsdestotrotz wird an dem Gespenst vom »orthodox-kommunistischen Antifaschismus« festgehalten. Ignoriert wird dabei – vermutlich in voller Absicht – die Tatsache, dass es in und für die VVN-BdA keine vorgeschriebene verbandseinheitliche Faschismus-Interpretation und damit auch keinen ideologiekonformen Antifaschismus gibt. In der VVN-BdA existieren unterschiedliche Zugänge zum Antifaschismus.

Genau so wenig entspricht es den Tatsachen, dass die VVN-BdA die Demokratie – in welcher Prägung auch immer – ablehne. Im Gegenteil, die VVN-BdA ist, im Unterschied zu den Praktiken des Geheimdienstes VS, eine konsequente und zuverlässige Verteidigerin der demokratischen Rechte und Freiheiten. Deshalb sind wir entschieden gegen Neofaschismus und Rechtsextremismus.

Und auch für den Vorwurf, die VVN-BdA richte sich »gegen das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition« , fällt dem Verfassungsschutz nur die Konstruktion ein, das sei so, weil wir im Verein mit vielen Antifaschisten fordern »Keine Nazis ins Parlament«, ebenso wie wir in Übereinstimmung mit Naziopfern und Nazigegnern feststellen, dass »Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen« ist. Wenn der Verfassungsschutz daraus konstruiert, das sei eine Ablehnung von Meinungsfreiheit und parlamentarischer Opposition, führt das in der Konsequenz zur Befürwortung von Nazi-Hetze und dem Einzug von Nazis in die Parlamente. Der Geheimdienst Verfassungsschutz als Förderer von Neonazis ist allerdings kein neuer Vorwurf.

Die Diffamierung und Verteufelung der von Nazi-Opfern und Widerstandskräften gegründeten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und ihrer Mitglieder und damit auch ihrer Bündnispartner führt zur Einengung der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten von Antifaschisten. Der amtliche Verfassungsschutz zeigt sich damit als Gegner einer Verfassung, die nach 1945 geschaffen wurde, um jede Wiederkehr von Faschismus und Nazis zu verhindern.

Während die VVN-BdA vom Verfassungsschutz bislang als »linksextremistisch beeinflusst« bezeichnet wurde, erfindet der hessische Verfassungsschutz nunmehr sogar eine »extremistische Organisation der VVN-BdA/DKP« – so wiedergegeben auf Seite 9 des schriftlichen Urteils.

Bezeichnend ist die vom Gericht übernommene Auflistung der Teilnahmen an Veranstaltungen und Demonstrationen, die die »linksextremistischen Bestrebungen« von Silvia Gingold beweisen sollen. Dazu gehören dann auch eine DGB-Veranstaltung und die Unterzeichnung eines Aufrufs, den 8.Mai zum Gedenktag zu machen. Entlarvend ist auch die Feststellung, dass Thema und Inhalt eines Vortrags »unerheblich« seien, weil sich die Referentin von Teilen des Veranstalter-Bündnisses »nicht distanziert« habe.

Ebenso sachfremd wird in dem Urteil unter »Entscheidungsgründe« angeführt, dass nach Auffassung des Gerichts »Teile der linksextremistischen Szene ihre Ziele im Übrigen auch unter Anwendung von Gewalt« verfolgen würden. Nirgendwo wird Silvia Gingold eine »Anwendung von Gewalt« unterstellt. Was also soll der Hinweis auf »Gewaltanwendung« in diesem Urteil? Es verstärkt den Eindruck eines sachfremden und tendenziösen Urteils, so als hätte der Verfassungsschutz es selbst geschrieben Dieses Urteil wird hoffentlich keinen Bestand haben.

Im Kasseler Urteil niedergelegte Positionen wie die, dass wer den Kapitalismus ablehne, zum »Linksextremismus« gehöre, stehen ebenfalls im Widerspruch zur Verfassung. Das Grundgesetz schreibt, wie das Bundesverfassungsgericht längst bestätigt hat, keine Wirtschaftsordnung vor. Sie sollte allerdings die demokratischen und sozialen Vorschriften der Verfassung erfüllen, was bei wesentlichen Teilen der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht der Fall ist.

Auch dass eine »egalitäre Gesellschaft«, wie sie z.B. zu den erklärten Grundsätzen der bürgerlichen französischen Revolution gehört, »linksextremistisch« sein soll, kennzeichnet das Denken derjenigen, die so etwas verkünden.