Man achte den Dreck
21. Juni 2018
Über Bodenerosion und Politik
Dem Deutschen Reich ging bei seinem Griff nach der Weltmacht im Ersten Weltkrieg nicht die Munition, sondern das Essen aus. Einer, den das sehr beschäftigte, war Adolf Hitler. Der schrieb in »Mein Kampf« nicht zu Unrecht, dass die Grenze der Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen durch »den Boden selber gezogen wird«. Er glaubte allerdings noch, wie damals allgemein üblich, dass Boden in »ungeheuren Flächen ungenützt vorhanden sei und nur des Bebauers harrt.« Von diesem Denken ausgehend, wurde der Zweite Weltkrieg denn auch zu einem brutalstmöglichen Kampf um Ackerland, als einer grundlegenden Ressource des »deutschen Volkes«.
Dies sollte man im Hinterkopf behalten, wendet man sich der kulturgeschichtlich-naturwissenschaftlichen Gesamtdarstellung über Bodenerosion von David Montgomery zu. Offensichtlich weltgewandt und entspannt aus umfassendem Wissen berichten könnend, nimmt er den Leser auf eine Reise rund um die Welt und durch die Jahrtausende mit. Zu erzählen gibt es, sei es im Falle der Kulturen des Zweistromlandes, des antiken Griechenlands und Roms, des sowjetischen Mittelasiens, des alten Chinas, des europäischen Mittelalters, des nordamerikanischen Westens oder des mittel- und südamerikanischen Dschungels immer wieder die gleiche Geschichte. Jede Gesellschaft, die ihren Ackerboden auf Dauer wie Dreck behandelt (daher der Buchtitel »Dirt«) zahlt dafür mit Verwüstung, Armut, Hunger und letztlich mit dem eigenen Untergang.
»Aufreißen, gebrauchen, wegwerfen, weiterziehen« – von der Einstellung, dass man die oberste humose Bodenschicht abbauen darf wie Kohle oder Öl, haben sich nur die wenigsten Gesellschaften nachhaltig verabschiedet. Immer wieder durch den Pflug aufgerissen und der Erosion durch Wind und Wasser preisgegeben, verringert sich der fruchtbare Boden schneller als er nachwachsen kann, wenn man nicht arg Obacht gibt. Die Verlustgeschwindigkeit variiert je nach Weltgegend. In durch die natürlichen Bedingungen privilegierten Regionen wie Nordamerika, Mitteleuropa, dem europäischen Russland oder Nordchina, kann schon mal ganzen Generationen entgehen was sich unter ihren Füßen abspielt. Ganz anders bei den Böden in den Trockengebieten und den Tropen oder bei besonders leichten Böden. Üppige Vegetation täuscht leicht über die Empfindlichkeit des Bodens hinweg. Binnen eines Jahrzehnts, im Extremfall durch einen einzigen Sturm, kann alle landwirtschaftliche Zukunft verloren sein.
Exportorientierte Monokulturen und unpersönliche Besitz- und Beziehungsverhältnisse befördern die Raubbaumentalität, sind aber nicht die einzigen Formen, die eine Katastrophe herbeiführen können, wie man am Beispiel Haiti sehen kann. Weitgehend egalitäre Besitzverhältnisse in dem durch antikolonialen Kampf befreiten Haiti verhinderten nicht, dass nun jeder eben für sich das anrichtete, was auf den Sklavenfarmen des alten Roms oder der amerikanischen Südstaaten in großem Stil erfolgte.
Der Zyklus von Bodenzerstörung und Hunger schien durch die Einführung von Kunstdünger, Pestiziden und mechanisierter Landwirtschaft durchbrochen. Die Produktivitätszuwächse sind allerdings durch das globale Bevölkerungswachstum der letzten 150 Jahre weitgehend aufgegessen worden. Zurzeit ist Hunger zwar weniger ein Problem der Produktion als vielmehr der Verteilung. Folgt man der Analyse Montgomerys, wird sich das zumindest theoretische Gleichgewicht von Produktion und Bedarf im Laufe der nächsten Jahrzehnte aber zum Schlechten hin verändern. Die Bevölkerungszahl wird noch weiter wachsen, während sich die nutzbare Ackerfläche der Welt verringert und es keine guten Reserveflächen mehr gibt. Das genetische Potential unserer Nutzpflanzen ist weitgehend ausgereizt. Die Böden hängen am Tropf des Kunstdüngers und verlieren durch ihn weiter an natürlicher Fruchtbarkeit. Das wird dann zutage treten, wenn das billige Öl zu Ende geht. Etwa 30% des weltweiten Ölverbrauchs geht zurzeit in die Landwirtschaft und ermöglicht z.B. Erdbeeren im Januar in jedem deutschen Supermarkt. Menschengemachter Klimawandel, Bodenerosion und Ressourcenmangel führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu politischer Instabilität, Ausbeutung, Kriegen und Katastrophen. Und hier schließt sich der Kreis zu Hitler. Der globale Bedarf an Ideologien, die »erklären«, warum die einen mehr als die anderen oder überhaupt etwas zu Essen haben dürfen, wird nämlich wachsen.
Das müsste allerdings aus Sicht der Bodenkunde alles nicht sein. Spätestens die alten römischen Landwirtschaftsautoren wussten schon, was zu tun ist, auch wenn sie kein Gehör fanden: Fruchtfolge, Bodenbedeckung durch Zwischenfrüchte, pflugloses Arbeiten, bzw. pflügen entlang der Bodenkonturen und Versorgung mit Mist und ganz generell mehr Weitsicht und Aufmerksamkeit gegenüber dem humosen Boden, als wahrhaft grundlegender Ressource menschlicher Existenz.
Montgomery wäre kein US-amerikanischer Autor, wenn er nicht wenigstens noch ein bisschen Optimismus verbreiten würde. Lernen könne man vom heutigen Kuba, dass das Tal der Tränen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und damit abgeschnitten von Erdöl, Pestiziden und Kunstdünger durch Besinnung auf gute Landwirtschaft letztlich erfolgreich durchschritten habe.