Das Kind auf der Liste

geschrieben von Renate Hennecke

2. August 2018

Die Geschichte des Sinto Willy Blum und seiner Familie

Willy Blum war eins von zweihundert Kindern, die am 25. September 1944 vom KZ Buchenwald nach Auschwitz geschickt und dort ermordet wurden. Als Letzter auf der Transportliste stand ursprünglich »Zweig, Stefan«, der Name des dreijährigen polnisch-jüdischen Kindes, dessen Rettung Bruno Apitz als Vorlage für seinen 1958 erschienenen Roman »Nackt unter Wölfen« diente. Doch dieser Name wurde, ebenso wie elf weitere Namen, durchgestrichen und durch einen anderen ersetzt. Die neue Nummer 200 war der sechzehnjährige Sinto Willy Blum.

Willy fuhr aus eigenem Entschluss nach Auschwitz; er wollte seinen neunjährigen Bruder Rudolf nicht allein in den sicheren Tod fahren lassen. Belegt wird dies und dasselbe Heldentum des achtzehnjährigen Sintos Walter Bamberger durch ein vom Lagerarzt unterzeichnetes Schriftstück. Darin steht: »Die Häftlg. 41923/47 Bamberger W. und 74254/47 Blum Willy wollen auf Transport mit ihren Brüdern, wogegen keine Bedenken bestehen.«

Bruno Apitz wusste nichts von Willy Blum, seit den 1990er Jahren aber ist dessen Schicksal bekannt. Dennoch wurde es weder in der Neuverfilmung des Romans 2015 noch in der begleitenden TV-Dokumentation über das KZ Buchenwald erwähnt. Ebenso fehlte jeder Hinweis auf die Sinti und Roma, die zu Tausenden in Buchenwald eingesperrt waren. Dagegen protestierte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. In der Folge dieses Protestes begab sich die Historikerin Annette Leo auf Spurensuche.

Aus dem Buch »Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie« erfährt man zunächst eine Menge über das Leben einer Schausteller-Familie, die Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts ein mobiles Marionettentheater betrieb und damit von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zog. Derartige Theater bildeten einen wichtigen Bestandteil der deutschen Volkskultur und waren auch für die lokale Ökonomie von Bedeutung, zogen sie doch Zuschauer aus der ganzen Umgebung an, die nicht nur die Theaterkasse füllten, sondern auch die Märkte und Wirtshäuser belebten.

Annette Leo, Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Aufbau Taschenbuch 2018 189 Seiten, 24 Abbildungen, 10,00 Euro

Annette Leo, Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie.
Mit einem Vorwort von Romani Rose.
Aufbau Taschenbuch 2018
189 Seiten, 24 Abbildungen, 10,00 Euro

Aus den für den Betrieb eines Wandermarionettentheaters erforderlichen Wandergewerbescheinen von Willy Blums Vater Aloys, bzw. den darin enthaltenen Wohnsitz-Angaben, rekonstruiert Annette Leo die Wege der zwölfköpfigen Familie Blum vom Harz – dort wurde 1928 Willy geboren – bis nach Hoyerswerda, von wo aus die Blums noch bis Ende 1941 das Marionettentheater weiter betreiben konnten. Längst waren sie von den Trupps der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« erfasst und »rassenbiologisch« kategorisiert worden. Anfang 1942 dann der Entzug des Gewerbescheins »aus rassischen Gründen« und das Verbot, Hoyerswerda zu verlassen. Die Töchter müssen Zwangsarbeit leisten. Ein Fluchtversuch mit dem Ziel Jugoslawien missglückt. Vater Aloys wird verhaftet und im Juli 1942 nach Auschwitz deportiert. Anfang März 1943 findet sich auch die übrige Familie im »Zigeunerfamilienlager Auschwitz-Birkenau« wieder.

Annette Leo wertet amtliche Dokumente – Transportlisten, Einträge im Gefangenenbuch von Auschwitz und in den Häftlingskarteien der KZs Buchenwald und Ravensbrück, Geburtsregister, Adressbücher, Strafregister, Unterlagen der ,Rassenhygienischen Forschungsstelle‹ der NS-Sicherheitspolizei, Materialien der Reichstheaterkammer sowie schließlich Akten des Entschädigungsamtes des Landes Niedersachsen – aus, ohne jedoch in deren »Sprache der Bürokratie, des Vorurteils, der Täter« zu verfallen. Die Dokumente »können ihren Teil zur Lebensgeschichte von Willy Blum nur beitragen, weil es auch noch einen anderen Teil gibt: die lebendige Erinnerung von Mitgliedern seiner Familie.« Beides zusammenzuführen wurde möglich, weil sich Willys Schwester, Elli Schopper, und deren Tochter, Ella Braun, bereit fanden, mit der Autorin zu sprechen. Elli Schopper schilderte aus eigener Erinnerung viele Details der Familiengeschichte, während ihre 1948 geborene Tochter über ihr Leben als Kind in einer traumatisierten Familie, über Diskriminierung und Ausgrenzung in der Nachkriegs-BRD und über ihr Engagement in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma berichtete.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, in seinem Vorwort zu dem Buch: »(Annette Leos) einfühlsamer Text zeugt nicht nur von der Fachkompetenz einer renommierten Historikerin, sondern auch von großer Sensibilität gegenüber den Opfern und ihren Nachkommen.«

In Thüringen als Publikation der Landeszentrale für politische Bildung für 5,00 Euro erhältlich. Auch als E-Book erhältlich. www.aufbau-verlag.de