Von jetzt an jedes Jahr

geschrieben von Renate Hennecke

2. August 2018

Gedenken an die deportierten und ermordeten Sinti und Roma

Das »Zigeunerfamilienlager Auschwitz-Birkenau« bestand von Februar 1943 bis zu seiner »Liquidierung« am 2./3. August 1944. Es hieß so, weil hier, anders als in anderen Lagern, die Häftlinge nicht nach Geschlecht getrennt, sondern familienweise eingesperrt wurden. Den Befehl zur Errichtung dieses Lagers gab Heinrich Himmler, Reichsführer SS, am 16. Dezember 1942, zusammen mit der Anordnung, alle noch im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma dorthin zu deportieren. Diese Anordnung wurde im März 1943 in die Tat umgesetzt.

Gedenkstunde am Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Oberbürgermeister Dieter Reiter begrüßt die Teilnehmer/innen. Foto: Gerhard Hallermayer

Gedenkstunde am Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Oberbürgermeister Dieter Reiter begrüßt die Teilnehmer/innen.
Foto: Gerhard Hallermayer

Fünfundsiebzig Jahre später fordern Sinti und Roma selbstbewusst einen angemessenen Platz in der deutschen Erinnerungskultur. So erinnerten die Münchner Sinti und Roma in diesem März erstmals gemeinsam mit der Landeshauptstadt und verschiedenen Kooperationspartnern durch eine zwölftägige Veranstaltungsreihe an ihre am 8. März 1943 verhafteten und am 13. März deportierten Angehörigen. Höhepunkte der Veranstaltungsreihe waren, nach einer eindrucksvollen Würdigung ihrer »starken Frauen« am 8. März, eine Gedenkstunde am Platz der Opfer des Nationalsozialismus am Nachmittag und eine Gedenkveranstaltung im Großen Sitzungssaal des Münchner Rathauses am Abend des 13. März.

Namenslesung auf dem Platz der NS-Opfer

Die an der nachmittäglichen Gedenkstunde Teilnehmenden werden von Oberbürgermeister Dieter Reiter begrüßt. Allen Rassisten will er ins Stammbuch geschrieben wissen, »dass die Sinti und Roma seit mehr als 600 Jahren Bestandteil der deutschen Geschichte und Kultur sind«. Erich Schneeberger (Landesvorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma) fordert die Stadt München auf, eine Straße nach dem 2015 verstorbenen Hugo Höllenreiner zu benennen, der seit den 1980er Jahren als Zeitzeuge an Schulen und bei Gedenkveranstaltungen über seine Erlebnisse in Auschwitz gesprochen hat. Alexander Diepold, Leiter von Madhouse München/Beratungsstelle für Sinti und Roma und wichtigste Triebkraft für die Durchführung der Gedenktage, schildert die Zusammenarbeit städtischer und nicht-städtischer Stellen bei der Vorbereitung dieses ersten Gedenkprogramms und kündigt an, dass künftig alljährlich um den 13. März an den Völkermord an den Sinti und Roma erinnert werden soll. Nach einer Kranzniederlegung werden die Namen und Lebensdaten der Menschen verlesen, die am 13. März 1943 aufgrund von Heinrich Himmlers »Auschwitz-Erlass« deportiert wurden. Lang, sehr lang ist die Reihe der Namen, vom fünf Monte alten Säugling bis zur 79-jährigen Greisin.

Es begann schon viel früher …

Am Abend im Rathaus. Aufmerksam folgen die Teilnehmer/innen der Rede von Bürgermeisterin Christine Strobl. 1. Reihe von links: Romani Rose, Erich Schneeberger, Peter Höllenreiner. Foto: Gerhard Hallermayer

Am Abend im Rathaus. Aufmerksam folgen die Teilnehmer/innen der Rede von Bürgermeisterin Christine Strobl. 1. Reihe von links: Romani Rose, Erich Schneeberger, Peter Höllenreiner. Foto: Gerhard Hallermayer

Abends im Rathaus begrüßt Bürgermeisterin Christine Strobl (SPD) die geladenen Gäste, unter ihnen Hugo Höllenreiners jüngster Bruder Peter und Hugos Cousin Mano sowie Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Die engagierte Rede der Bürgermeisterin wird mit lebhaftem Beifall quittiert. Strobl: »Gerade München (hat) als Zentrum der antiziganistischen, aber auch antisemitischen Verfolgung eine ganz besonders unrühmliche Rolle gespielt. Der Nährboden dafür wurde bereits lange vor 1933 geschaffen. Es begann schon viel früher, aber es kulminierte erstmals mit der Schaffung der sog. Ordnungszelle Bayern nach der blutigen Niederschlagung der zweiten Münchner Räterepublik, als die Stadt zum Sammelbecken für Antidemokraten, fanatische Rassisten und Rechtsextremisten wurde.«

… unter Mitwirkung der Polizei

Zur Rolle der Münchner Polizei, die seit Kaisers Zeiten das organisatorische Zentrum der Verfolgung von Sinti und Roma im Deutschen Reich gebildet hatte, findet Polizeipräsident Hubertus Andrä klare Worte: »Die Deportation von Münchnern – Kindern, Frauen und Männern – vor 75 Jahren war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es war ein Verbrechen aus rassistischen Gründen, begangen durch Angehörige und unter Mitwirkung der Münchner Polizei. Daran gibt es nichts zu deuteln.« Heute ermittle die Münchner bzw. die bayerische Polizei ohne Ansehen der jeweiligen Personen – »niemals dürfen Abstammung und Herkunft dazu Anlass geben«. Die Beamtinnen und Beamten verstünden sich als Hüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und träten für die Sicherheit der hier lebenden Menschen ein. Andrä: »Für die Münchner Polizei sage ich: Mit vollem Engagement wollen wir einstehen für die persönliche Sicherheit und den Schutz der Grundrechte eines jeden, der in diesem Staat und in unserer Stadt lebt.« Mit dieser allzu freundlichen Darstellung der polizeilichen Gegenwart kann Münchens oberster Ordnungshüter allerdings nicht jeden im Saal überzeugen.

Rechtstaatlichkeit und Neubeginn in Frage gestellt

Romani Rose weist auf die schlimmen Folgen der nach 1945 andauernden Diskriminierung der Minderheit für die Entwicklung des westdeutschen Staates hin. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma: »Große Teile der an der Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma beteiligten Beamten konnten ihre Karriere nach 1945 nahezu bruchlos fortsetzen. Dafür mussten sie ihre maßgebliche Rolle bei der Organisation des Völkermords an den Sinti und Roma systematisch verschleiern und verharmlosen. (…) Diese Verfälschung der historischen Tatsachen, die sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte fand, war nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, sie stellte die Prinzipien von Rechtstaatlichkeit und demokratischem Neubeginn radikal in Frage.«

Nach dem Zentralratsvorsitzenden schildert der Landesvorsitzende Erich Schneeberger die Etappen der Verfolgung in Bayern und im Reich und hebt hervor, dass der Völkermord an der als »Zigeuner« verfolgten Minderheit sich in keiner Weise vom Holocaust an den Juden unterschied.

Hoffnungen eines Zurückgekehrten

Tiefen Eindruck hinterlassen schließlich die Lebenserinnerungen von Peter Höllenreiner, der seinen vierten Geburtstag im Viehwaggon nach Auschwitz verbringen musste und danach noch weitere drei Konzentrationslager durchlief, bevor er als Sechsjähriger in seine Heimatstadt München zurückkehrte. Sein weiteres Leben war durch die schrecklichen Erlebnisse in den KZs und die weiter andauernden rassistischen Demütigungen geprägt. Seine Hoffnungen richten sich auf die Jugend, die dafür sorgen muss, dass den heute wieder zunehmenden Angriffen auf die Minderheit entgegengetreten und eine Wiederholung der damaligen grauenhaften Ereignisse nicht zugelassen wird. Dieser Wunsch habe ihn auch dazu bewogen, an diesem Abend zu sprechen. Jedoch: »Was heute geschieht, das hätte ich mir schon zu meiner Schulzeit vor siebzig Jahren gewünscht.« Die Zuhörer danken dem mittlerweile 79-Jährigen mit lang anhaltendem stehendem Applaus. Am nächsten Tag geht das Programm mit einem Workshop zum Thema »Antiziganismus heute« weiter.

Fünfter Staatsvertrag abgeschlossen

Als fünftes Bundesland hat Bayern am 20. Februar 2018 – drei Jahre nach einem diesbezüglichen einstimmigen Landtagsbeschluss – einen Staatsvertrag mit dem zuständigen Landesverband Deutscher Sinti und Roma abgeschlossen. In Baden-Württemberg, Hessen, Bremen und Rheinland-Pfalz wurden schon früher derartige Verträge unterzeichnet, die das »Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten« umsetzen sollen. In Schleswig-Holstein haben Schutz und Förderung der Volksgruppe der Sinti und Roma ebenso wie der Dänen und der Friesen Verfassungsrang. Außer den drei Genannten sind in Deutschland auch die Sorben als nationale Minderheit anerkannt.

Das Rahmenübereinkommen wurde 1995 vom Europarat aufgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland trat ihm am 11. Mai 1995 bei. Als Bundesgesetz gilt es seit dem 1. Februar 1998. Das Übereinkommen verbietet »jede Diskriminierung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit« und verpflichtet die Vertragsparteien, »erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern«. Die Anerkennung der Sinti und Roma als nationale Minderheit in Deutschland erfolgte 1995 gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Rahmenübereinkommens.

Die bayerische Staatsregierung unterzeichnete 2007 eine Gemeinsame Erklärung über enge Zusammenarbeit mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma. Mit der Überführung der Gemeinsamen Erklärung in einen Staatsvertrag verpflichtet sich nun die Staatsregierung unter anderem, gemeinsam mit dem Landesverband Initiativen auf den Gebieten von Bildung, Kultur und Wissenschaft zu unterstützen, die dem Schutz und dem Erhalt der kulturellen Identität der hier als nationale Minderheit lebenden Sinti und Roma dienen und dem Antiziganismus entgegenwirken. Durch Abbau von Wissensdefiziten und von antiziganistischen Einstellungen in der Bevölkerung soll ein Geist der Toleranz und des gegenseitigen Respekts geschaffen werden.

Erich Schneeberger, Vorsitzender des Landesverbands, hob in seiner Ansprache anlässlich der Vertragsunterzeichnung die zentrale Bedeutung der Vereinbarung für die Minderheit hervor und begrüßte, dass »die bisherigen freiwilligen Leistungen des Freistaats eine rechtlich verbindliche Grundlage erhalten und in ihrer Höhe nun den tatsächlichen Erfordernissen angepasst wurden«. Laut Vertrag unterstützt die Staatsregierung die Arbeit des Landesverbands mit 474.700 Euro im Jahr.