»Erst stirbt das Recht …

17. August 2018

Auszüge aus der Rede von Rolf Gössner am 24. Mai 2018 in Solingen

Wir gedenken heute der Opfer eines der schwersten Verbrechen in der Geschichte der Republik: des Solinger Brand- und Mordanschlags vom 29. Mai 1993, bei dem fünf junge Angehörige der Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor dem rassistisch motivierten Anschlag hatte – nach einer verantwortungslosen Debatte um »Asylantenflut« und »Überfremdung« – eine gro-ße Koalition aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl demontiert. »Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen«. Klarer kann man den Zusammenhang dieser beiden Ereignisse kaum formulieren, wie er seinerzeit auf einer Mauer entlang der Unteren Wernerstraße nahe des Anschlagsorts zu lesen war. Auf diesen Zusammenhang hatte ich bereits in meiner Rede anlässlich des Gedenkens zum 20. Jahrestag vor fünf Jahren hier in Solingen aufmerksam gemacht.

Derzeit befinden wir uns wieder in einer äußerst prekären Phase, in der eine rechtspopulistische Debatte bis hinein in die Mitte der Gesellschaft stattfindet – eine Debatte um Überfremdung, Asylmissbrauch und kriminelle Ausländer, um Asyl- und Abschiebezentren und beschleunigte Abschiebungen – eine unheilvolle Angstdebatte, die von Seiten der Politik, insbesondere von CSU-Heimat-schutz-mini-ster Horst Seehofer und anderen, befeuert wird und die geeignet ist, die Situation hierzulande gefährlich aufzuheizen.

Seit 2015 ist angesichts der zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik geflüchteten Menschen zwar viel von »Wir schaffen das« und von »Willkommenskultur« die Rede, die in der Tat auch in weiten Teilen der Republik anzutreffen ist und die die allermeisten Betroffenen zu schätzen wissen. Doch diese weitgehend zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit wird zunehmend begleitet und konterkariert – zum einen von einem weiter verschärften Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: ›Grenzen dicht, sichere Herkunftsländer küren, massenhaft schneller abschieben‹; zum anderen von alltäglicher rassistischer Hetze, Ausgrenzung und Gewalt – eine besorgniserregende Entwicklung, die trotz ihrer blutigen Bilanz gegenüber der so medienwirksamen und angstbesetzten islamistischen Terrorgefahr mehr und mehr aus dem öffentlichen Blick gerät.

Doch die Terrorangriffe gegen Migranten, Asylbewerber und andere Geflüchtete gehen weiter und die Täter sind mitten unter uns. Immer wieder brennen Flüchtlingsheime, die rassistischen Übergriffe auf Geflüchtete, ehrenamtliche Helfer, auch auf Moscheen reißen nicht ab – und die Angriffe kommen mehr und mehr aus der Mitte einer nach rechts driftenden und sozial gespaltenen Gesellschaft. (…)

In der Bundesrepublik sind allein seit 1990 fast 200 Menschen von rassistisch und fremdenfeindlich eingestellten Tätern umgebracht worden. Der Mordanschlag von Solingen war der vorläufige »Höhepunkt« – besser: Tiefpunkt – einer Serie weiterer fremdenfeindlicher Attentate: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Quedlinburg, Cottbus, Lübeck und Mölln sind zu traurigen Fanalen geworden für diesen gewalttätigen, menschenverachtenden Rassismus. Nach den NSU-Morden mussten wir zehn und nach dem Münchener Amoklauf vom Juli 2016 neun weitere Tote hinzurechnen. Wir müssen also konstatieren: Nach dem Solinger Brandanschlag ist hierzulande nicht etwa Besinnung eingekehrt, sondern viel Entsetzliches passiert.

Dabei haben uns die langjährige Nichtaufklärung der NSU-Mordserie sowie die Ausblendung ihres rassistischen Hintergrunds drastisch vor Augen geführt, dass »Verfassungsschutz« und Polizei im Bereich »Rechts-extremismus / Neonazismus« grandios versagt haben, was auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte besonders schockierend ist. Das waren nicht nur Pannen und Unfähigkeit, wie gerne kolportiert – nein, da waren ideologische Scheuklappen und stuktureller Rassismus im Spiel, die zu Ignoranz und systematischer Verharmlosung des Nazispektrums führten und damit zu einem beispiellosen Staatsversagen – begünstigt übrigens auch durch eine jahrzehntelang einseitig gegen sog. Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus ausgerichtete »Sicherheitspolitik«. Hier werden bekanntlich alle Register gezogen, die den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen und die im Zuge eines exzessiven »Antiterrorkampfes«, besonders nach 9/11, erheblich verschärft und ausgeweitet wurden.

Lassen Sie mich – einem Wunsch der Organisatoren dieser Gedenkveranstaltung folgend – noch auf ein besonders brisantes Problem eingehen: Es geht um die verhängnisvolle Rolle des Inlandsgeheimdienstes »Verfassungsschutz« und sein V-Leute-Sy-stem, das sich als unkontrollierbar und erhebliches Gefahrenpotential für Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaat herausgestellt hat. Im Laufe der 1990er Jahre ist in Neonazi-Szenen und -Parteien ein regelrechtes Netzwerk aus V-Leuten, Verdeckten Ermittlern und Lockspitzeln entstanden – das den Kabaretti-sten Jürgen Becker zu dem bösen Scherz verleitete: Bei Nazi-Aufmär-schen sei er sich oft nicht mehr ganz so sicher, ob es sich um echte Nazis handelt oder um einen »Betriebsausflug des Verfassungsschutzes«. In dieser kabarettistischen Überspitzung liegt ein wahrer Kern.

Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass in Neonaziszenen rekrutierte V-Leute nicht etwa »Agenten« des demokratischen Rechtsstaates sind, sondern staatlich alimentierte Nazi-Akti-visten – also meist gnadenlose Rassisten und Gewalttäter, über die sich der Verfassungsschutz heillos in kriminelle Machenschaften verstrickt. Brand-stiftung, Körperverletzung, Totschlag, Mord-aufrufe, Waffenhandel, Gründung terroristischer Vereinigungen – das sind nur einige der Straftaten, die V-Leute im und zum Schutz ihrer Tarnung begehen. (…)

Im Fall des Nichtermittlungsskandals rund um die NSU-Mordserie waren Geheimdienste mit Dutzenden V-Leu-ten – etwa Tino Brandt, alias »Otto« – auch in dem Neonazi-Sammelbecken »Thü-ringer Heimatschutz« aktiv, in dem die späteren mutmaßlichen Mörder organisiert waren und aus dem heraus sich der NSU und sein Unterstützerumfeld unter den Augen der Geheimdienste entwickeln konn-ten. Der »Verfassungsschutz«, wie wir inzwischen wissen, war mit vielen seiner bezahlten und hochkriminellen V-Leu-te hautnah dran an den späteren mutmaßlichen Mördern, ihren Kontaktpersonen und Unterstützern; sie mordeten quasi unter staatlicher Aufsicht. Trotz-dem – oder muss man sagen: deswegen? – wollen die Inlandsgeheimdienste so gut wie nichts mitbekommen haben, haben sie die NSU-Mordserie über lange Jahre hinweg weder verhindert noch zu ihrer Aufdeckung beigetragen können oder wollen. Diese Mordserie hätte, so viel ist inzwischen klar geworden, wohl verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz seine strafrechtsrelevanten Erkenntnisse über die Untergetauchten und ihre Unterstützer rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte, wozu er gesetzlich verpflichtet war.

Auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts München müssten jedenfalls weit mehr Angeklagte sitzen als Zschäpe, Wohlleben & Co.: Hier fehlen die involvierten V-Leute, ihre V-Mann-Führer und alle für Versagen, Unterlassungen und Vertuschen Verantwortlichen aus Verfassungsschutz, Polizei und Sicherheitspolitik. (…)

Seit Aufdeckung der NSU-Mordserie sind die »Verfassungsschutzbehörden« mit geradezu krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihres Ver-sagens, ihrer ideologischen Verblendung und Verflechtungen in das NSU-Umfeld zu verdunkeln und zu vernichten. Auch die Behinderungen der polizeilichen Ermittlungen im Fall des V-Mann-Führers Andreas Temme, alias »Klein-Adolf«, der am Tatort eines NSU-Mordes anwesend war, sind symptomatisch für diese systematische Abschottung.

Zusammenfassend kann man sagen: Der »Verfassungsschutz« hat nicht nur im NSU-Komplex, sondern insgesamt Neonazi-Szenen und -Parteien über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Über sein kriminelles und unkontrollierbares V-Leute-System verstrickt er sich heillos in kriminelle und mörderische Machenschaften der Naziszenen. Auf diese Weise, so mein Fazit, ist er selbst integraler Bestandteil des Neonazi-Problems geworden, jedenfalls konnte er kaum etwas zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen. Denn trotz der hohen Zahl an V-Leuten im Nazi-Spektrum haben sich die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes kaum gesteigert, jedenfalls hat er als »Frühwarnsystem«, das er sein soll, insgesamt system- und ideologiebedingt versagt.

Doch ausgerechnet solche skandalträchtigen und letztlich demokratiewidrigen Geheim-institutionen erhalten im Zuge des Antiterrorkampfs wieder unverdienten Auftrieb. Statt ernst-hafte Konsequenzen aus ihren skandalreichen Karrieren und Desastern zu ziehen, wird der »Verfassungsschutz« – geschichtsvergessen – weiter aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher gemacht – anstatt die Bevölkerung endlich wirksam vor seinen Machenschaften zu schützen. Ja, er darf sich inzwischen sogar ganz legal krimineller V-Leute bedienen und diese gegen Ermittlungen der Polizei abschirmen – ein rechtsstaatswidriger Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission. So unglaublich es klingen mag: Bisherige Skandale und illegale Praktiken werden praktisch legalisiert – und damit die obszönen Verflechtungen des VS in gewalttätige Naziszenen. (…)

Letztlich wird sich nur dann etwas grundlegend ändern, wenn die Verfassungsschutzbehörden als Geheimdienste aufgelöst, ihnen die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Führen von V-Leuten und zum Infiltrieren von politischen Szenen und Gruppen grundsätzlich versagt werden. Dieser Forderung namhafter Bürgerrechtsorganisationen steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung. Denn danach muss der Verfassungsschutz keineswegs Geheimdienst sein.

Und wir fordern darüber hinaus eine rückhaltlose Aufklärung und konsequente Ahndung aller Neonazi-Verbrechen und aller staatlichen Verstrickungen in gewaltbereite Neonazi-Szenen. Wir fordern ernsthafte Anstrengungen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus in Staat und Gesellschaft, eine humane Asyl- und Migrationspolitik, unabhängige Stellen zur Kontrolle der Polizei, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Projekte gegen Rechts und bessere Unterstützung von Opfern rechter Gewalt und von deren Angehörigen.

Und nicht zuletzt: Auch nach der bevorstehenden Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München darf es keinen Schlussstrich unter Aufarbeitung und Aufklärung des NSU-Kom-plexes geben. Denn es ist noch allzu viel im Dunkeln.

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Publizist und seit vielen Jahren engagiert in der Thematik Menschen- und Grundrechte. Was ihn immer wieder mit Nachstellungen von »Verfassungsschutz« und anderen »Diensten« konfrontierte.