Lebensthema Menschlichkeit

geschrieben von Janka Kluge

21. September 2018

Zum Gedenken an Claude Lanzmann

Als ich vor Jahren in der Diskussion mit einer Freundin wieder einmal bei dem Punkt angelangt war, ob Menschen in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen, empfahl sie mir die Biographie von Claude Lanzmann »Der patagonische Hase«. Dieses Buch hatte sie, die Tochter eines Shoah-Überlebenden, stark beeindruckt.

Ich kannte damals den Namen von Claude Lanzmann, hatte aber noch nichts von ihm gelesen und auch sein Hauptwerk, den über neunstündigen Film »Shoah«, noch nicht gesehen. Neugierig machte ich mich an die Lektüre und versank immer tiefer in seine Biographie.

Er wurde am 27. November 1925 in der bei Paris gelegenen Stadt Bois-Colombes geboren. Seine Großeltern waren vor Antisemitismus geflüchtete Juden aus Riga, die hier eine neue Heimat gefunden hatten.

Im ersten Kapitel seiner Biographie schilderte Claude Lanzmann, wie ihn immer wieder die Frage beschäftigte, dass es Menschen gibt, die andere zum Tode verurteilen. Millionen Menschen wurden wegen ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Herkunft ermordet.

1940 brachte sein Vater ihn, seinen jüngeren Bruder und seine kleine Schwester in die Auvergne. Er wusste um den Antisemitismus der Nazis und brachte seinen Kindern bei, sich bei der geringsten Gefahr zu verstecken. Zu diesem Zeitpunkt war der Vater bereits Mitglied der Résistance. Claude Lanzmann wurde Mitglied des illegalen kommunistischen Jugendverbands und dann mit 18 ebenfalls der Résistance. Erst 1944 erzählte ihm der Vater von seinen Aktivitäten im antifaschistischen Widerstand.

»Als er fertig war, war ich an der Reihe, und ich offenbarte ihm alles, die kommunistische Jugendbewegung, die FUJP, (…), die Agloé, die Waffenübungen in den Kellern des Lycée, (…) die Verteilung von Flugblättern, die Aussicht mit der FTP-Widerstandsbewegung (…) gemeinsam zu kämpfen, das brennende Problem des Waffenmangels.« Der Vater hatte keine Ahnung von dem politischen Kampf seines Sohnes gehabt.

Trotz seines Kampfes für die Befreiung Frankreichs von der Besetzung Deutschlands ging Claude Lanzmann 1947 zum Philosophiestudium nach Tübingen. Ein Jahr später wurde er Lektor an der Freien Universität in Berlin und Leiter des französischen Kulturzentrums. In dieser Zeit schrieb er erste Artikel. Einige dieser Texte wurden nach seiner Rückkehr nach Frankreich in der Zeitung »Le Monde« unter der Überschrift »Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang« veröffentlicht.

Durch diese Artikel wurde Jean-Paul Sartre auf ihn aufmerksam und lud ihn ein, an der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Les Temps modernes« mitzuarbeiten. Aus dieser gemeinsamen Arbeit entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Sartre, Simone de Beauvoir und ihm, die bis zu ihrem Tod Bestand hatte. Mit Simone de Beauvoir verband ihn auch eine Liebesbeziehung. Wir lebten wie ein Ehepaar, erinnerte er sich später an diese gemeinsamen Jahre.

Als 1954 die algerische FLN zum bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreich aufrief, reagierte Frankreich mit brutaler militärischer Gewalt. Für die Intellektuellen rund um Sartre war klar, dass sie nicht schweigen durften, wenn Frankreich zum Unterdrücker wird. Sie nahmen an zahlreichen Demonstrationen zur Unterstützung der Unabhängigkeit Algeriens teil. Außerdem forderten sie, dass es möglich sein muss, sich als Soldat dem Einsatz in Algerien zu verweigern. Als 1960, auf der Höhe der Auseinandersetzungen, das Manifest der 121 veröffentlicht wurde, verbot der Staat seine Verbreitung. Claude Lanzmann gehörte zu dem Kreis, der das Manifest verfasst und Unterzeichner gesucht hatte. Auf die Wohnung von Sartre und Beauvoir wurde ein Bombenanschlag verübt. »Sartre und Beauvoir zogen daraufhin in eine düstere Dreizimmerwohnung, (…) wo ich sie besuchen kam, indem ich mich wie ein Profi jeder möglichen Beschattung entzog, so wie ich es in der Résistance gelernt hatte« schrieb Lanzmann später in seiner Biographie.

Erst über die Beschäftigung mit der Unterdrückung und dem Kampf um Befreiung kam Claude Lanzmann zu den beiden Themen, die später seine Arbeit und sein Leben bestimmen würden: Israel und die Shoah. 1973 brachte Lanzmann den Film »Warum Israel« heraus. Er geht der Frage nach, warum es für Juden auf der ganzen Welt wichtig ist, dass es Israel gibt. Bereits ein Jahr später fing er mit den Vorarbeiten zu seinem Hauptwerk an. Er wollte zeigen, wie der millionenfache Mord an den europäischen Juden möglich wurde. Dafür interviewte er sowohl Überlebende, als auch Täter. Zuerst weigerte er sich, an den Orten der Vernichtung zu filmen. »Mein Film sollte sich der äußersten Herausforderung stellen: die nichtexistierenden Bilder vom Tod in den Gaskammern zu ersetzen.«

Mit dem Film »Shoah« hat Claude Lanzmann nicht nur den Opfern ein Denkmal gesetzt, sondern auch allen, die für eine nicht rassistische Welt kämpfen, eine Waffe für diesen Kampf gegeben.

Claude Lanzmann ist am 5. Juli 2018 in Paris gestorben.

»In Wahrheit waren mein Leben lang – ohne Unterlass – die Abende (…) vor und die Tage nach einer Hinrichtung Zeiten des Schreckens, in deren Verlauf ich mich zwang, die letzten Augenblicke, Stunden, Minuten, Sekunden der Verurteilten vorwegzunehmen oder nachzuspüren, was auch immer die Gründe für das verhängnisvolle Verdikt gewesen sein mochten.«