Auf dem Weg ins Gestern?
24. September 2018
Das letzte Buch von Zygmunt Bauman
Von Karl Valentin gibt es das Wort: »Früher war alles besser: Sogar die Zukunft!«. Valentins Bonmot hat seine volle Bedeutung erst in unserer Gegenwart erlangt, könnte man mit Zygmunt Bauman sagen. »Retrotopia« ist das allerletzte Buch des antifaschistischen Kämpfers, Befreiers von Berlin und bedeutenden Soziologen der NS-Gewaltverbrechen (siehe den Nachruf in »antifa«, März 2017). Es zeigt den polnisch/britischen 92jährigen als aus dem Vollen schöpfenden Intellektuellen, der nicht nur auf der Höhe der Zeit diskutiert, sondern uns für die Zukunft noch etwas zu sagen hat. Er tut dies in lockerer Form – man hat sich ja nichts mehr zu beweisen – Themen, Thesen und Ideen durcharbeitend, ohne sonderlich viel Rücksicht auf die Leser zu nehmen. Grundstruktur seiner Argumentation ist ein Hegelscher Dreischritt, eine »Triade doppelter Negation« der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften. Schritt Eins ist der bereits in der Vergangenheit versunkene »feste« Kapitalismus bis Anfang etwa der 1970er Jahre, als Kapital und Arbeit im Wesentlichen noch einen »Ort« hatten, der von einflussreichen Staatsgebilden organisiert, behütet und bewacht wurde. Macht und Politik werden aber seitdem in Schritt 2 – so Bauman – zunehmend entkoppelt. Das Kapital wurde, wenn nicht herrenlos, so doch ortlos und wortwörtlich »entgrenzt«. Phase 2 entband aber nicht nur das Kapital seiner Begrenzungen, sondern auch das Individuum. Aus der Welt stickiger Begrenzungen und Konformitäten brachen neue Zeiten individueller Freiheiten und Möglichkeiten heran, zumindest wurden sie versprochen! Die Abfolge war, könnte man schlagwortartig zusammenfassen, der Übergang von »Sicherheit« zu »Freiheit«: »Sicherheit« mit dem Doppelcharakter von Zwanghaftigkeit und Stabilität, die »Freiheit« mit dem Januskopf endloser Möglichkeiten und großer Ängste. Heute, in Phase 3, scheinen die Versprechen der Befreiung für sehr viele Menschen nicht mehr aufzugehen. Was nützen Reise- und europäische Arbeitsfreiheit, totale Informationsmöglichkeiten, usw., wenn nur diejenigen etwas davon haben, die sich das Ganze leisten können?
Der Lack der Moderne ist ab. Die Utopien haben sich längst in Dystopien verwandelt und »die Straße nach Morgen wird zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls. Vielleicht erweist sich da der Weg zurück, ins Gestern, als Möglichkeit, die Trümmer zu vermeiden, die die Zukunft jedes Mal angehäuft hat, sobald sie zur Gegenwart wurde?«
Was wir heute nahezu weltweit erleben, ist eine »Epidemie der Nostalgie«. Allerorten werden goldene Vergangenheiten beschworen. Das mögen die »guten Jahre« der Sowjetunion sein, die Wirtschaftswunderzeiten der Bundesrepublik oder die Stabilität des indischen Kastenwesens. Attraktiv sind dabei die Verheißungen von Sicherheit und Ordnung in einer Gegenwart, in der sich Leute andauernd »selbst neu erfinden« sollen, ihre Arbeitskraft durch die Produkte der »Wellness-Industrie« ganz eigenverantwortlich zu reproduzieren haben und man generell heute nicht weiß, was morgen sein soll.
Erstaunlich rasch werden die tatsächliche Dumpfheit und Unfreiheit der jeweiligen Vergangenheit vergessen gemacht, Hauptsache, man hat wieder einen »Ort« mit Territorium, Grenzen, Ab- und Ausgrenzungen. Wer meint, den Zorn mobilisieren zu dürfen oder zu müssen, erlebt Baumans Zorn. Er muss es wissen, wenn er schreibt: »Wie bei den Leichen, die man in den Krematorien von Auschwitz und Treblinka verbrannt hat, benötigt man auch hierfür keinen zusätzlichen Brennstoff; ständig schwelende Wut entzündet sich immer wieder neu an sich selbst.«
Baumans Plädoyer ist natürlich ein ganz anderes. Für ihn gibt es eine neue Sicherheit nicht mehr durch Ausgrenzungen, sondern nur durch Dialog und Koalitionsbildung und – ein eindringliches Plädoyer – das bedingungslose Grundeinkommen. Eine Alternative für die Menschheit als Spezies gäbe es nur noch global. Seine letzten Worte an uns sind denn auch: »Mehr als zu jeder anderen Zeit stehen wir, die menschlichen Bewohner des Planeten Erde, vor einem Entweder-Oder: Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber.