Der Appell von Mailand

30. September 2018

KZ-Verbände wenden sich an die europäischen Regierungen

Am 1. Juli organisierte der italienische Verband der FIR, ANED, ein Treffen der Internationalen Lagerkomitees in Mailand. Nach einer sehr fruchtbaren Debatte über die gemeinsamen Aufgaben, über die Arbeit mit und in den Gedenkstätten und mit den jungen Generationen, beschlossen sie den »Mailänder Appell«, eine Erklärung zur gemeinsamen Aufgaben und ein Appell an alle Gewählten und Verantwortlichen in den verschiedenen nationalen und europäischen Institutionen.

APPELL VON MAILAND, 1. Juli 2018

Die Präsidenten, Vizepräsidenten und Generalsekretäre der Internationalen Komitees der Nazi Konzentrationslager haben sich – auf Initiative der Associazione Nationale Ex Deportati Nei Campi nazisti (ANED) – am 1. Juli 2018 in der Casa della Memoria in Mailand getroffen. Angesichts der aktuellen Bedrohungen gegen das Gedächtnis und gegen die Zukunft Europas und seiner MitbürgerInnen, veröffentlichen wir folgenden feierlichen Aufruf:

Wir sind die Träger des Gedächtnisses der Überlebenden der Naziverbrechen: dieses lebendige und schmerzvolles Gedenken macht aus uns die Sprecher für die abertausenden Männer und Frauen, die die Lager überlebt haben. Wir sind entweder Angehörige oder Nachkommen der Überlebenden, bzw. normale BürgerInnen, die innerhalb ihrer verschiedenen Organisationen aktiv sind.

Es liegt uns am Herzen die früheren KZ-Lager, die heute Erinnerungsorte geworden sind, zu schützen und sie vor dem Vergessen, der Banalisierung sowie der Zerstörung zu bewahren. Wir beziehen uns unter anderem auf den Entschluss des Europaparlaments vom 11. Februar 1993, betreffend den europäischen und internationalen Schutz für historische Denkmäler der Orte der Nazi Konzentrationslager. Die jüngsten Angriffe auf die historische Substanz in Mauthausen und Flossenbürg empören uns zutiefst.

Wir sind empört, dass eine von der UNO am 21. November 2014 präsentierte Resolution »Für den Kampf gegen eine Verherrlichung des Nazismus, des Neonazismus und anderer Praktiken, die die zeitgenössischen Formen des Rassismus, der Rassendiskriminierung, des Fremdenhasses und der ihr zugehörigen Intoleranz befeuern«, nicht angenommen wurde, wegen drei Nein-Stimmen und 55 Enthaltungen (unter ihnen die der europäischen Mitgliedsländer).

Gegenüber allen nationalistischen und populistischen Versuchen, diese Orte der Barbarei sowie die Kämpfe und die Solidarität aus dem europäischen Gedächtnis verschwinden zu lassen, bleiben wir überaus wachsam.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 erinnert daran daß: »(…) die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen (…).« Hunderttausende von Deportierten in die Nazilager sind die Opfer dieser Barbarei geworden.

Seit über siebzig Jahren sind die Überlebenden und ihre Nachkommen den Versprechen bei der Befreiung ihrer Lager treu geblieben. Unermüdlich haben sie sich für den Frieden und für die brüderliche Solidarität unter den Völkern eingesetzt. Durch ihr Zeugnis haben sie gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass und die Thesen der Rechstextremisten in Europa gekämpft.

Auf die Ankunft von Flüchtlingen, die von Krieg und Hunger getrieben sind, ist die Antwort von verschiedenen europäischen Staaten nicht eine humanitäre Aufnahme sondern die Schliessung ihrer Grenzen. Das Mittelmeer ist zu einem riesigen Friedhof geworden wo die Hoffnungen von Tausenden von Männern, Frauen und Kindern ein Ende finden. Europa scheint sein Gedächtnis verloren zu haben: viele Europäer waren, vor und nach dem Krieg, selber Flüchtlinge. Sie haben manchmal Solidarität erfahren aber auch Diskriminierung und Zurückweisung. Europa muss die schrecklichen Lektionen seiner jüngsten Geschichte lernen und nicht die Augen vor seiner Verantwortung schließen:

Welche Werte wollen wir den jungen Generationen vermitteln? Egoismus und die Angst vor dem Anderen dürfen die Werte des Humanismus, die im Herzen unserer gemeinsamen Geschichte und unserer Verpflichtungen stehen, nicht ersetzen.

Wir appellieren deshalb an die vom Volk gewählten Vertreter in den verschiedenen nationalen und europäischen Institutionen und bitten sie, sich bei der Suche nach adäquaten Antworten in der Flüchtlingsfrage vor allem vom Respekt vor der Menschenwürde eines jeden leiten zu lassen.

Erste Unterschriften:

• Associazione Nazionale Ex Deportati Nei Campi nazisti (ANED): Dario Venegoni, Präsident

• Comité International de BUCHENWALD-DORA: Dominique Durand, Präsident

• Comité International de DACHAU: Jean-Michel Thomas, Präsident

• Association des déportés et familles des disparus du camp de concentration de FLOSSENBÜRG et Kommandos: Michel Clisson, Président

• Comité International de MAUTHAUSEN: Guy Dockendorf, Präsident

• Comité International de NATZWEILER-STRUTHOF: Jean-Marie Muller, Präsident

• Amicale Internationale de NEUENGAMME: Jean-Michel Gaussot, Président

• Comité International de RAVENSBRÜCK: Ambra Laurenzi, Präsidentin