Abseits der Gesellschaft
6. Oktober 2018
Wie wenig der neue Verfassungsschutz-Bericht offenbart
Schon im Vorwort des Verfassungsschutzberichtes für das Jahr 2017 steht der »Linksextremismus« gleich nach dem »Islamistischen Terror«. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verteidigt hier an prominenter Stelle das Verbot der linken Internetplattform »linksunten.indymedia.org« und ereifert sich über die teilweise gewaltförmigen Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg.
Das Verbot der Plattform nach Vereinsrecht ist Gegenstand von mehreren Gerichtsverfahren, die erst im Frühjahr 2019 am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig verhandelt werden. Auch die Proteste gegen den G20-Gipfel, oder vielmehr die rechtswidrigen Polizeieinsätze, Einschränkungen des Versammlungsrechts, die Missachtung von Gerichtsentscheidungen und die Militarisierung des öffentlichen Raums durch die Sicherheitsorgane, sind noch lange nicht aufgearbeitet, wie die zahlreichen Publikationen, Untersuchungsausschüsse und populäre Dokumentarfilme wie »Hamburger Gitter« belegen. Dennoch wird hier von Seehofer abschließend Stellung genommen. Er macht Politik und das Amt für Verfassungsschutz, das eigentlich nur Informationen beschaffen und die Gesellschaft »warnen« soll, ist sein Organ dafür.
Vom NSU keine Spur
Erst an dritter Stelle steht der »Rechtsextremismus«, der auch nur dann problematisch wird, wenn er sich gewalttätig äußert. Hier wird wohlfeil ermahnt, man solle diese Szene und auch die »Reichsbürger« nicht unterschätzen. Seehofer vermeidet jeden konkreten Bezug z.B. zum NSU-Verfahren, zum NPD-Verbot oder rechtsterroristischen Strukturen wie »Combat18«. Beim »Rechtsextremismus« wird auch nicht abschließend zu strittigen Fragen, wie Organsations- und Parteiverboten Stellung, genommen. Die konkrete Gefahr, tatsächliche Potentiale und Präventionsansätze bleiben im Ungewissen.
Antiföderaler Backslash
Zum Schluss bemüht Seehofer die Metapher der »wehrhaften Demokratie«, um nebenbei die Stärkung des Bundes gegenüber den »unterschiedlichen Sicherheiten und blinden Flecken« der Länder zu fordern. Wie schon beim Polizeiaufgabengesetz (PAG) ist seine antiföderale Haltung klar: Schaffung großer zentraler Strukturen und Abschaffung der Ländergesetze- und behörden, auf die die Landesregierungen und die jeweilige Zivilgesellschaft mehr oder weniger liberalisierenden Einfluss hätten. »Wehrhaft« gegen Auswüchse staatlicher Allmacht wird die Demokratie so sicher nicht.
Die AfD bleibt außen vor
Diese Agenda zieht sich durch den ganzen Bericht von insgesamt 353 Seiten. Der größte Fauxpas ist aber die Nicht-Beachtung der AfD und explizit ihres völkischen Flügels. Selbst die »Tagesthemen« kamen in ihrem Kommentar zu dem Schluss, dass nie ein VS-Bericht dermaßen neben der gesellschaftlichen Realität lag. Die AfD bekommt ihren Platz – aber nur als Opfer im Kapitel zu »Linksextremismus«. Wenn es um die Werte der Verfassung ginge, müsste auf den brachialen Nationalismus, den Rassismus, den Antisemitismus und Antifeminismus der AfD in den Parlamenten und auf den dafür fruchtbaren Boden eingegangen werden. Dass der Bericht hier »blinde Flecken« hat, zeigt, dass es im Kern nicht um Verfassungswerte für alle, sondern um Sicherheitspolitik geht. Letztere ist bedroht, durch Terror, der alle treffen kann. Aber offensichtlich auch durch gesellschaftliche Utopien, die eine Emanzipation für alle durch Überwindung von Ausbeutung und Kapitalismus zum Ziel haben. Dass hier linksradiale Gruppen mit wenigen Leuten, geringem Gewaltpotential, aber einer gewissen politischen Ernsthaftigkeit derart akribisch aufgeführt werden, zeigt, wie schief der Beobachtungshorizont des BfV ist und wie wenig aus dem NSU-Komplex und der eigenen Verstrickung in Rechtsterror (auch vor dem NSU) gelernt wurde. Immerhin haben es die »Identitären« aufgrund ihrer Führungskader aus anderen rechtsextremen Gruppierungen zum »Verdachtsfall« gebracht.
Erkenntnisgewinn?
Der VS-Bericht eignet sich nicht als Grundlage für Bildungsarbeit, auch wenn es an den Schulen immer wieder versucht wird. Zuwenig erfahren wir über die eigentlichen Gefahren für die Grund- und Verfassungswerte. Auch als Bilanz des Amtes taugt der Bericht nicht. Es findet sich nichts zur Veränderung der Strukturen aufgrund der Skandale in der Vergangenheit. Die Bewertungen, die der VS vornimmt, sind zudem einerseits relativierend, andererseits überspitzt und überdramatisierend. Die bewaffnete rechtsextreme Gruppe »Combat18« wird nur als »verbalradikal« dargestellt, während die Rote Hilfe (Rechtshilfe-Organisation der radikalen Linken) als Motivations-Struktur für Gewalttäter stilisiert wird. Interessant dürften für manche der Ländervergleich politisch-motivierter Kriminalität und die nackten Zahlen sein. Außerdem kann der Bericht als Frühwarnsystem für politisch Aktive dienen: Denn wir erfahren zumindest, wen das Bundesinnenministerium zum Feind erklärt hat.
Zur Aufklärung der rechtsterroristischen Gruppen »Combat 18« trägt die Exif-Recherche (ebenfalls Juli 2018) eher bei: exif-recherche.org
Kritisiert wird außerdem die Beobachtung und Stigmatisierung kurdischer Organisationen im VS-Bericht.: »Die Darstellung der Tageszeitung Yeni Özgür Politika durch den Verfassungsschutz als PKK-Organ diene der Diffamierung dieser Zeitung, so Ulla Jelpke (Linke): »Ziel des Geheimdienstes ist es, jede solidarische Berichterstattung zum kurdischen Freiheitskampf einerseits und jede Enthüllung von Kriegsverbrechen des türkischen NATO-Partners andererseits in die Nähe vermeintlichen Terrorismus bzw. verbotener Organisationen zu rücken. Diese Vorgehensweise kennen wir zur Genüge aus der Türkei.«